Worum es hier geht:
Die folgenden Infos wurden zunächst zusammengestellt für das Verständnis einer Textstelle im 2. Kapitel des Romans „Nach Mitternacht“ von Irmgard Keun.
Das Zitat fügen wir unten an und werten es für den Roman aus.
Hier zunächst die Infos, die für alle an Geschichte Interessierten hilfreich sein können.
- Am 7. März 1936 befahl Adolf Hitler der deutschen Wehrmacht, das Rheinland zu besetzen. Diese Region, die strategisch und wirtschaftlich wichtig war, war nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag von 1919 entmilitarisiert worden…. Dies bedeutete, dass Deutschland in diesem Gebiet, das das gesamte Westufer des Rheins sowie eine Zone von fünfzig Kilometern östlich des Flusses umfasste, keine Truppen stationieren durfte. Auch die Verträge von Locarno aus dem Jahr 1925 bestätigten den Status der entmilitarisierten Zone….
— - Mit der unangekündigten Besetzung des Rheinlandes verstieß Hitler bewusst gegen diese internationalen Verträge…. Die Nationalsozialisten und Hitler sahen die Bestimmungen des Versailler Vertrags als Belastung an und strebten deren Revision an…. Die Remilitarisierung des Rheinlandes war ein weiterer folgenschwerer Verstoß gegen den Versailler Vertrag, nach der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im März 1935.
— - Hitler ging mit dieser Aktion ein großes Risiko ein…. Er selbst bezeichnete diesen Schritt später als äußerst wagemutige Unternehmung. Die 48 Stunden nach dem Einmarsch seien die aufregendste Zeitspanne in seinem Leben gewesen…. Er war sich der Gefahr einer militärischen Reaktion Frankreichs bewusst….
— - Sowohl Diplomaten als auch Militärs hatten in Vorgesprächen auf die Risiken eines solchen Schritts hingewiesen. Nach 1945 sagten mehrere deutsche Generäle aus, dass Deutschland sich im Falle einer französischen Gegenwehr nicht hätte behaupten können, da die militärischen Kräfte nicht einmal für mäßigen Widerstand ausgereicht hätten…. Die einmarschierten Truppen hatten sogar Befehl, sich im Falle französischer Gegenwehr sofort zurückzuziehen. Hitler war nach dem Einmarsch äußerst nervös und erwog mehrfach, die Besetzung rückgängig zu machen, insbesondere als die Botschafter Frankreichs und Großbritanniens ihren Besuch ankündigten.
— - Die militärische Reaktion Frankreichs und seiner Verbündeten blieb jedoch aus. Dies geschah, obwohl Frankreich militärisch überlegen gewesen wäre und eine sofortige Gegenbesetzung nach Einschätzung einer späteren französischen Untersuchung zweifellos möglich gewesen wäre. Die Passivität Frankreichs und Großbritanniens war eine entscheidende verpasste Gelegenheit, Hitlers Pläne ohne einen großen Krieg zu stoppen…. Die westlichen Mächte wichen zurück, und ihre Entscheidung, Hitlers „Fait accompli“ nicht militärisch zu beantworten, bestärkte Hitler in seinen politischen Anschauungen…. Dies signalisierte dem NS-Regime, dass die europäischen Mächte Hitlers Expansionspolitik tolerieren würden, und er legte fortan jede Zurückhaltung ab.
Das Zitat aus dem Roman
Es geht um das Erlebnis einer 19jährigen jungen Frau nach der Rheinlandbesetzung in NS-Deutschland. Sie bemüht sich nach einem Besuch Hitlers in Frankfurt anschließend in einer Kneipe ihre Freundin Gerti von gefährlichen Provokationen von NS-Leuten abzuhalten.
- „Ein SS-Mann vom Nebentisch kam uns nach und fragte sehr höflich, ob die Gerti nachher noch ein Glas Bier woanders mit ihm trinken könne oder ob sie gebunden sei und ich möge doch auch mitkommen, sein Kamerad komme auch mit. Wir sollten doch nicht so streng und abweisend sein, und ob wir heute auch den Zapfenstreich gehört hätten. Der SS klebte seine Augen an Gerti fest, und er sehe jetzt leider nicht so gut aus wie sonst, weil die SS große Anstrengungen gehabt habe in der letzten Zeit. Als die Truppen eingerückt seien, haben sie ja in ständiger Alarmbereitschaft sein müssen, jede Sekunde habe man mit feindlichen Fliegern gerechnet und niemals geglaubt, daß die Franzosen sich alles gefallen lassen. Die seien so gemein, und man habe damit rechnen müssen, daß sie sich wehren.“
- Deutlich wird hier, wie sich menschliche Normalität (ein Mann interessiert sich für eine Frau und will vielleicht auch ein Treffen zu viert erreiche – wird von der Autorin geschickt verknüpft mit der neuen politischen Situation.
- Ganz nebenbei kommt dann die Anspielung auf die Besetzung des Rheinlandes und die damit verbundene Gefahr für die neue Nazi-Herrschaft in Deutschland. Immerhin verstößt das Land hier wie im Jahr vorher (Aufbau einer Luftwaffe und allgemeine Wehrpflicht) gegen Bestimmungen des Versailler Vertrags nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg.
- „Ganz unheimlich ist uns geworden. Der Führer hat es gewollt und den Einmarsch der Truppen befohlen, wodurch wir Menschen fast ohne Ahnung alle in der größten Gefahr schwebten. Vielleicht schweben wir weiter.“
- Interessant diese Kombination von Angst bzw. Sorge und die kritiklose Hinnahme dessen, was Hitler zu verantworten und auch riskiert hat.
- „Ein Zufall ist es, daß giftige Gase nicht meinen Leib zerfressen. Der Führer riskiert alles. Durch ein Wort kann er Krieg machen morgen und uns alle tot. Wir alle ruhen in des Führers Hand.“
- Hier ist die Kombination von Angst/Sorge und der Bereitschaft, sein Leben „in des Führers Hand“ zu legen noch extremer.
- Der SS-Mann macht ernste und beruhigende Augen, als habe er uns gerettet und wolle uns ununterbrochen weiterretten. „
- Hier kommt wieder der Humor durch, der aus einer scheinbar naiven Haltung kommt, aber viel an Kritik verrät.
- Es bleibt hier offen, wieviel die Autorin hier der Figur zuschreibt zwischen der dargestellten Naivität und der untergründigen Infragestellung vieler Dinge.
Ausblick:
- Im weiteren Verlauf kommt es zu einer gefährlichen Situation, als Gerti einfach erklärt, sie sei Jüdin.
- Damit will sie nur weiteren Versuchen entgehen, sie zu vereinnahmen.
- Sie bringt sich damit aber in Lebensgefahr.
- Es ist eine geniale Idee der Autorin und dann auch ihrer Figur, wie sie die Situation einigermaßen bereinigt.
- „Als er mal eine Pause machte in seinen Reden, tat Gerti sofort wieder etwas Schreckliches, um ihn loszuwerden. Immer hat sie Lust, gemein zu werden und die Nazis zu quälen, darum sagte sie zu dem SS: sie könne ihn nicht treffen, sie sei leider Jüdin.
- Das ist gar nicht wahr, nur aus Wut und Übermut und Besoffenheit sagte die Gerti das. Natürlich sofort kalter Haß bei dem SS – und: »Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?«
- Dabei hatte er uns überhaupt nicht zu Worte kommen lassen. Gerti sagte, er solle sich an sein Blut wenden und sein Blut fragen, warum es nicht gesprochen habe, wie es sich gehöre.
- Ich sagte schnell, um die Situation nicht lebensgefährlich werden zu lassen: »Meine Freundin wollte ja nur einen Scherz machen – Sie haben natürlich gleich richtig gefühlt, daß sie keine Jüdin ist, aber sie sitzt mit einem befreundeten SA-Mann, dem ist sie verpflichtet.«
- Daraufhin außerordentlich beleidigte Art von Hackenzusammenschlagen des SS und: »Mit solchen Dingen treibt man keinen Scherz.'“
- Besonders gefährlich ist natürlich, dass Gerti mit der Anspielung auf das Blut noch einen drauf setzt.
- Umso nötiger ist dann der Einfall, mit dem die Ich-Erzählerin dem SS-Mann einen Abgang ermöglicht, der die Gefahr erst mal beseitigt.
Ullstein Taschenbuch; 1. Edition (27. Juli 2023)
ISBN-10 : 3548068979
ISBN-13 : 978-3548068978
Kindle-Info:
Nach Mitternacht: Roman | Neuausgabe im Rahmen von „Frankfurt liest ein Buch 2022“ von Irmgard Keun https://lesen.amazon.de/kp/kshare?asin=B09LNQDSNW&id=er4ejzpgbzgt3pafpivomw5dja
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Geschichte für Durchblicker – Überblick über Infos, Tipps und Materialien – Themenseite
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— - Kurz und knapp: Irmgard Keun, Nach Mitternacht, Inhalt und Zitate, Kap 2
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— - Im Detail: Imgard Keun, Nach Mitternacht, Inhalt und Zitate, Kap 2
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— - Infos, Tipps und Materialien – Themenseite zu Keuns Roman „Nach Mitternacht“
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