Anders Tivag, „Wenn die Norm zur Normierung wird – Sprachwandel im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz“ (Mat8668)

Anders Tivag,

Wenn die Norm zur Normierung wird – Sprachwandel im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

Ich denke gerne an den Deutschunterricht zurück. Schließlich hat er mir klar gemacht, dass Norm nicht gleich Norm ist. Jeder kennt ja die sogenannte DIN-Norm, hat fast jeden Tag damit zu tun, wenn er sich zum Beispiel doch noch ein Heft kauft, statt nur dem Tablet in der Schule zu arbeiten. Dann liest man hin und wieder, dass irgendwo Normen verletzt worden sind. Das hört sich mitleid-erregend an – aber in Wirklichkeit heißt das, dass man eher Mitleid haben sollte mit dem, der da gegen irgendwelche Bestimmungen verstoßen hat. Es kann sein, dass die Strafe bald auf dem Fuße folgt.

Halten wir fest: Normen sind etwas, was uns das Leben leichter macht. Wir wissen dann, dass eine Arbeit im DIN-A4-Format, die wir schriftlich einreichen müssen, problemlos in den entsprechenden Briefumschlag passt. Mit Schrecken erinnern wir uns an die Idee eines Politikers, alle Normen bei den Verpackungsgrößen aufzuheben. Hätte sich das durchgesetzt, hätte die Wirtschaft endlich jede Preiserhöhung verstecken können, indem sie die Packungen stufenlos kleiner macht – der Preis wäre geblieben.

Aber – und damit wir beim Thema: Die Idee hat sich nicht durchgesetzt: Jeder „normal“ -denkende  Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, dass so ein System das Verstauen von Einkäufen zuerst im Auto und später zu Hause im Kühlschrank zu Problemen geführt hätte. Dann hätten plötzlich Sachen nicht mehr gepasst – man hätte umdenken müssen – Zeitverlust und vielleicht auch unnötige Kosten.

Was ist hier also passiert? Die Idee einer neuen Norm (gesetzliche Vorschrift, dass alle Packungsgrößen ab jetzt erlaubt sind) ist auf die Verhaltens-NORM-alität der Menschen gestoßen. Sie hätten einfach die neuen Packungsgrößen nur einmal gekauft, die Probleme festgestellt und sich dann für die alten bewährten Modelle entschieden.

Es gibt also zwei Normen: Das eine sind die Vorschrifts-Normen, das andere sind die Verhaltens-Normnormalitäten.

In der Sprache war das immer schon klar: Die Menschen entwickelten die sie weiter, indem sie einfache ihre Sprechweise anpassten – an Vorbilder, an gute Einfälle oder einfach durch Anpassung an die Art und Weise, wie die Mehrheit spricht.

Irgendwann hat sich in Deutschland das Wort „toll“ durchgesetzt für etwas, was besonders gut gefällt. Am Wort „Tollwut“ kann man erkennen, dass diese Tiererkrankung überhaupt nichts Tolles ist, nämlich gefährlich. Aber man  übertrug dieses Wort aus dem Wortfeld „verrückt“ (man denke an „Tollhaus“), „krank“ in den Bereich des Wortfeldes „gut“. Später wurde das auch „normal“, d.h. niemand erkannte mehr, dass der Sprecher etwas besonders hervorheben wollte – also ging man über zum Wort „geil“. Damit konnte man vor ein, zwei Generationen noch die Erwachsenen erschrecken – heute ist es ganz normal, wenn auch in der Schriftsprache noch nicht so ganz angekommen. Dafür haben sich die Menschen noch weitere Steigerungen des Wortes „geil“ einfallen lassen, worauf wir hier aber lieber nicht genauer eingehen.

Wer sich dafür interessiert, kann ja mal ein Chatprogramm der Künstlichen Intelligenz danach fragen.

Damit sind wir endlich beim eigentlichen Thema. Es gibt Leute, die beklagen, dass immer mehr sprachliche Verhaltensweisen einer Norm von oben unterworfen werden. Es wird also vorgeschrieben, wie man etwas zu bezeichnen hat.

Bei der sogenannten Rechtschreibreform gab es wohl einige „Normierer“, die über das Ziel hinausgeschossen sind – vieles ist geblieben, aber manches ist auch durch die „normalen“ Sprecher korrigiert worden. Der Duden war es wohl, der dann entsprechende Varianten anbot.

Was ist aber, wenn nicht mehr die Sprachgemeinschaft die Norm, also das Normale, bestimmt, sondern eine Künstliche Intelligenz, die in einem Land die Welt der Kommunikation so überschwemmt bzw. vereinheitlicht, dass die zum Beispiel von einer diktatorischen Regierung gewollte Vorgabe-Norm zur Realitäts-Norm wird? Man wird hier an die Sprachregelungen aus dem Roman „1984“ erinnert. Da gab es doch so etwas wie „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.“ Zumindest hat das die künstliche Intelligenz Bing/Copilot eben als kleinen Beitrag zu diesem Text angeboten.

Es lohnt sich also, auf solche Entwicklungen zu achten. Natürlich gibt es Normsetzungen, gegen die man nichts haben kann und an die man sich auch schnell gewöhnt – etwa im Bereich der Abwendung von rassistischen Begriffen. Aber man wird sicher aufpassen müssen, damit die künstliche Intelligenz nicht denen hilft, die sowieso schon die Macht haben, auch noch unsere Sprache und damit unser Denken zu beeinflussen.

Druckvorlage

Mat8668 Anders Tivag, Wenn die Norm zur Normierung wird

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