Anders Tivag, Wie Theobald von Schnurz Lessings „Nathan der Weise“ verteidigte (Mat8582)

Worum es hier geht:

  • Wer uns kennt, weiß, dass wir glücklicherweise einige Lehrkräfte um uns herum haben, die gerne auch selbst mal schreiben.
  • Zwar nur unter dem Schutz eines Pseudonyms, dafür aber mit der Möglichkeit, das eine oder andere direkt in eigenen Klassen und Kursen auszuprobieren – mit einer einigermaßen ehrlichen Reaktion.
  • Nun ist es unserem Referenz-Schüler Latus Crux gelungen, einen dieser Lehrer dazu zu bewegen, sich nicht nur an Kurzgeschichten und Gedichten zu versuchen, sondern aufs große Ganze zu blicken bzw. sich da „ranzuschreiben“.
  • Anders hatte sich zunächst mit Händen, Füßen und einem abweisenden Blick auf sein Smartphone geweigert, an so etwas überhaupt zu denken.
  • Er habe keine Lust, drei Jahre seines Lebens zu verschenken, um 300 Seiten zu produzieren, die dann nur von 299 Leuten gelesen werden, darunter einige übelgelaunte Freunde und Freundinnen – bei denen hoffte er immer auf Mitgefühl, wenn er ihnen als erste was zu lesen gab. Aber ein Roman – never.
  • Aber bei Latus wirkten sich immer mehr die argumentativen und rhetorischen Übungen mit seiner Lieblingslehrkraft aus. Also meinte er nur scheinheilig: „Und was mit dem Omnes-Roman?“ Das war eine Anspielung auf einen Running Gag zwischen ihnen. Wenn Anders sich irgendetwas Wildes ausgedacht hatte, beruhigte er immer sein davon möglicherweise betroffenes Gegenüber mit den Worten: „Kommt nur in meinen niemals veröffentlichten Roman.“
  • Von dem gab es nur den Titel „Et si omnes“ – das war Latein und bedeutete: „Und wenn alle“ – und endete dann im entschlossen klingenden Paukenschlag: „Ego non“.
  • Das war eine Anspielung auf alles, was seit Gustave Le Bons Feststellung einer Massenseele von immer mehr Leuten begriffen worden ist: Menschen sind soziale Wesen und neigen dazu, sich der Meinung der Mehrheit anzuschließen.
  • Aber nicht Anders Tivag, dessen Eltern ihm schon mit dem Vornamen ein Widerstands-Geschenk in die Wiege oder ins Stammbuch gelegt hatten.
  • So, das musste hier kurz erzählt werden, um zu erklären, wieso es zu einem Auszug zu einem Roman gekommen ist, den es gar nicht gibt – zumindest nicht als Ganzes.
  • Jedenfalls erklärte sich Anders Tivag bereit, hin und wieder mal eine Kostprobe aus seinen Ideen im Roman-Auszugs-Format zu präsentieren – und wir dürfen es hier „publizieren“.
  • Um allen Deutsch-Lehrkräften zudem eine Freude zu machen und die Arbeit zu erleichtern, wird Herr Tivag hier auch noch eine Klausur zu diesem Text erstellen.

So, nun also zu dem Auszug:

Anders Tivag

Wie Theobald von Schnurz einen Klassiker verteidigte

Er war es endgültig leid. Nun unterrichtete er schon mehrere Jahre an einem Privatgymnasium im bayerischen Alpenvorland und hatte viele beglückende Erfahrungen machen dürfen beim Umgang mit jungen, strebsamen Leuten.

Aber die Zeiten änderten sich offensichtlich, immer häufiger sah er kritische Blicke oder es wagte sich sogar Widerspruch hervor, wenn er die abendländische Kultur und ihre großen Geister verteidigte.

Er überlegte kurz, ob er sicherheitshalber auch die „Geisterinnen“ berücksichtigen sollte – aber er ließ es dann doch lieber. So weit war die Geschlechtervielfalt anscheinend doch noch nicht fortgeschritten.

Andererseits: War er nicht auch für Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung? Aber er beschloss, das erst mal zurückzustellen und sich seinem aktuellen Haupt-Anliegen zuzuwenden.

Am Tag vorher hatte er sich nicht so wohl gefühlt und deshalb beschlossen, mit seinem Grundkurs Deutsch auch einmal den so genannten Informatikraum aufzusuchen. Dort hatte er ein Arbeitsblatt ausgeteilt, auf dem die Schüler und Schülerinnen im Internet vorhandene Rezensionen im Hinblick auf Lessings Meisterwerk „Nathan der Weise“ auswerten sollten.

Sein Unwohlsein hatte sich verstärkt, als an einzelnen Arbeitsplätzen – erst zaghaft und dann immer stärker – Gelächter aufkeimte. Dann sammelten sich Schülergruppen sogar um einzelne Rechner. Als er sich zu ihnen gesellte, sah er auf dem Bildschirm eine Liste von Punkten, was in Lessings Werk alles unstimmig beziehungsweise fragwürdig wäre. Er beschloss, am Ende der Stunde, die Arbeitsblätter einzusammeln. Dann konnte er in aller Ruhe – soweit nötig – möglicher Kritik entgegenwirken.

Jetzt hatte er die Zettel ausgewertet und beschlossen, sich in der Schule erst mal krank zu melden. Was er hatte lesen müssen, grenzte an kulturellen Hochverrat. Man hatte sich nicht einmal davor gescheut, aus irgendwelchen sozialen Netzwerken – so hieß das wohl – regelrecht bösartige, ja einem Fall sogar blasphemische Bemerkungen mit aufzunehmen.

Der Eindruck, dass dagegen massiv, aber auch klug vorgegangen werden müsste, verstärkte sich bei ihm. Also beschloss er, eine Variante des Parabeltricks anzuwenden, indem er seine Sicht der Dinge, nicht direkt, gewissermaßen ex cathedra vortrug, sondern einen Text aus der aktuellen Zeitung mitbrachte. Wozu kannte er Redakteur Schrotenkorn vom Klarfurter Tagblatt, dessen Vorläufer bis auf das frühe 19. Jahrhundert zurückging.

Es kostete ihn eine Flasche von seinem fantastischen Lieblingswein aus der Toskana und das Versprechen, bis 18:00 Uhr fertig zu sein, um eine aktuelle Rezension zur kulturellen Lage an unseren Schulen auf den medialen Weg zu bringen.

Vorbei waren alle Schmerzen, sein Geist nahm Fahrt auf und setzte zu einem regelrechten Höhenflug an.

Am Ende war ein kleines Meisterwerk entstanden, das sicher geeignet war, dem aktuellen Negativtrend entgegenzuwirken. Schon eine halbe Stunde vor Toresschluss war die Mail abgeschickt und auch bestätigt worden. Jetzt konnte er sich in Ruhe mit einem Ausdruck seines intellektuellen Gegenangriffs ins Bett zurückziehen und sich der Genesung hingeben.

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