Ann Cotten, „Angewendete Sensibilität“ (Mat8743)

Worum es hier geht:

Wir stellen hier ein Gedicht vor, das auf besondere Art und Weise Lyrik, also Gedichte, gegen die kritische Frage verteidigt, wozu solche Texte eigentlich nützlich sind.

Das Gedicht haben wir hier gefunden.

Anmerkungen zur Form:

Da Schülis ja leider sich immer erst mit Fragen beschäftigen müssen, die die Freude an Poesie kaum erhöhen, soll ihnen hier zumindest kurz geholfen werden:

Das Gedicht besteht aus drei Teilen:

  • einer Versgruppe aus 7 Zeilen,
  • einer Einzelzeile
  • und einer Versgruppe aus 5 Zeilen.

Einzelne Zeilen reimen sich, so etwa 1 und 3, 4 und 5, 2 und 6. Vielleicht will dieses Gedicht auch in Formfragen die gleiche Autonomie zeigen wie auch inhaltlich. Es „scheißt“ (Zitat, Zeile 9) anscheinend auch auf Formfragen – sehr sympathisch.

Das Gleiche gilt für den Rhythmus. Wir spielen hier die Zeilen mal durch:

  1. xXxXxXxX = vierhebiger Jambus
  2. XxxXxXxX = Vorne eine Störung
  3. xXxXxXxX = vierhebiger Jambus
  4. xXxXxXxXx = vierhebiger Jambus
  5. xXxXxXxXx = vierhebiger Jambus
  6. xXxXxXxX = vierhebiger Jambus
  7. xXxXxXxX = vierhebiger Jambus
  8. xXxXxXxX = vierhebiger Jambus
  9. xXxXxxXx = In der Mitte eine Störung
  10. xXxXxXxX = vierhebiger Jambus
  11. xXxXxXxXxXxX = sechshebiger Jambus
  12. XxxXxXxX = Vorne eine Störung
  13. xXxXxXxX = vierhebiger Jambus

Jetzt kann man genauer untersuchen, ob die rhythmischen Störungsstellen auch inhaltliche Störungen enthalten.

Bei Zeile 2 passt das, da steht ja sogar „da stimmt was nicht“
Bei Zeile 9 ebenfalls, da taucht ja ein Wort auf, das maximalen Protest deutlich macht.
Bei Zeile 12 könnte man argumentieren, dass das lyrische Ich Langeweile und Abwendung auch von seinen rhythmischen Pflichten ausdrückt.
Interessant die Zeile 11, denn dort geht es ja um das Bohren harter Bretter oder in diesem Falle langer Zeilen 😉

Man sieht, es lohnt sich, über die Bedeutung nachzudenken, wenn man sich schon mit so was beschäftigen muss.

Anmerkungen zur Überschrift
  • Die Überschrift gibt zwei wichtige Hinweise. Es geht um Sensibilität. Damit ist meistens gemeint, dass man intensiver als andere etwas wahrnimmt, vor allem gefühlsmäßig. Zum Beispiel merkt man eher als andere, ob jemand traurig ist.
  • Das zweite Signal ist, dass es hier darum geht, dass diese Sensibilität auch angewendet wird. Man erwartet also einen Fall, in dem etwas intensiver wahrgenommen wird, als es normalerweise der Fall ist.
Anmerkungen zu den Zeilen 1-4
  • Bei der ersten Versgruppe geht es um den Fall, dass die Lyrik, also Gedichte um Rat gefragt wird.
  • Deutungshypothese:
    Es geht hier um den praktischen Nutzen von Gedichten und das ist ja dann eine sehr interessante Frage.
  • Dann wird im Hinblick auf Lyrik die Frage der Überschrift aufgenommen. Es geht darum, was jemand, der ein Gedicht schreibt, vielleicht intensiver wahrnimmt, als das bei normalen Texten der Fall ist.
  • Es gibt zwei Vermutungen, was unter Umständen bemerkt werden könnte von einem Dichter:
    • Zum einen geht es um so etwas wie Witterung – die bezieht sich bei Tieren ja zum Beispiel auf eine Gefahr.
    • Dann geht es um das, was einem nicht „behagt“, einem das Leben also nicht „behaglich“ genug macht. Welche – möglicherweise unnötigen – Beschwernisse gibt es?
  • Am Ende war dann anscheinend die etwas frustrierte Frage, was man denn nun wirklich von der Lyrik wissen wolle, an welchen Stellen man von ihr Rat haben wolle.
  • Deutungshypothese:
    Das lyrische ich bemüht sich zwar, gewissermaßen einen Nachweis zu liefern, dass Gedichte zu etwas gut sind, stößt dann aber schnell an seine Grenzen.
Anmerkungen zu den Zeilen 5-7
  • Die nächsten drei Zeilen wird es dann politisch. Es geht um die Frage, was Deutschland „besorgen“ muss, worum es sich also sorgen muss. Hier bleibt offen, um welche Probleme es geht, aber Ziel sind auf jeden Fall Lösungen
  • Dann wird mit den Wörtern „ergreifen“ und „schlicht“ eine große Spannweite aufgemacht. Damit soll deutlich werden, dass es um ganz große, ungewöhnliche Lösungen gehen kann, aber auch eben um kleine des Alltags.
    Auch hier kann sich jeder selbst überlegen, was damit konkret gemeint sein könnte.
  • Es wird dann auch deutlich gemacht, dass im Idealfall natürlich eine Kombination von großen und kleinen Lösungen hilfreich ist, Sorgen nehmen kann.
  • Das dreifache „he“ kann dann zum Beispiel als Aufforderung verstanden werden.
Anmerkungen zur Zeile 8
  • Interessant ist hier, was Wikipedia zu diesem Begriff sagt, der typisch für den österreichischen Humor sein soll
    • „Der Schmäh setze eine „ironisch-zynische Distanzhaltung voraus “– nicht umsonst wird er oft in Zusammenhang mit dem „kulturell Fremden“ geführt: „Entweder von den ‚Zuagrasten‘ selbst oder über sie“.
  • Das würde hier passen, weil das lyrische Ich, offensichtlich ein Vertreter oder zumindest Verteidiger der Lyrik, sich hier durchaus etwas ironisch abgrenzt von denen, die keine praktische Erfahrung haben, aber kritisch gegenüber Lyrik sind.
Anmerkungen zu den Zeilen 9-13
  • Das, was jetzt kommt, dürfte wohl eine etwas heftige Variante dieser österreichischen Eigenart sein.
  • Denn hier wird deutlich gemacht, dass Lyrik sich zunächst einmal autonom fühlt, berechtigt auch zu radikalen Reaktionen
  • Außerdem wird deutlich, dass es hier nicht um das geht, was in der realen Welt häufig eine ganz große Rolle spielt, nämlich Karriere.
  • Dann wird noch einmal eine Vermutung geäußert, worum es geht, nämlich offensichtlich um politische Veränderungen.
  • Das wird zurück gespiegelt als Verantwortung derer, die dafür zuständig sind.
  • Am Ende dann ein Rückgriff auf den Titel und den grundsätzlichen Ansatz. In der Lyrik geht es eben gerade nicht nur um das ergebnisschwache Abkratzen der Oberschicht, sondern um das, was darunter ist. Und dafür braucht man eben Empathie.
Zusammenfassung
  1. Insgesamt ein Gedicht, dass auf ironische und zum Teil auch aggressive Weise sich auseinandersetzt mit den Ansprüchen, die der Lyrik gegenüber anscheinend formuliert werden.
  2. Die Forderung nach Reform beziehungsweise Verbesserung der Gesellschaft im politischen Feld wird nicht als Aufgabe der Lyrik angesehen.
  3. Ihr geht es vielmehr um eine vertiefte Betrachtung der Wirklichkeit. Was daraus gemacht wird, ist in der Verantwortung anderer,
  4. Insgesamt zeigt dieses Gedicht sehr schön, was einen poetischen Text von einem Sachtext unterscheidet, nämlich das Individuelle, Empathisch und nicht direkt auf Nutzen Ausgerichtete.
  5. Natürlich darf es auch politische Lyrik geben – aber sie ist dann immer im Verdacht, sich ein poetisch zu verkleiden, um eine höhere Würde zu erreichen. Das mag geschafft werden – aber dadurch wird das, was ein solches Gedicht vertritt, nicht schon überzeugender.

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