Worum es hier geht:
Joseph von Eichendorff
Der verspätete Wanderer
- Interessanter Titel, der das typisch romantische Wandermotiv verbindet mit dem Zuspätkommen.
- Man ist gespannt, worauf das hinausläuft.
Wo aber werd ich sein im künftgen Lenze?
So frug ich sonst wohl, wenn beim Hüteschwingen
Ins Tal wir ließen unser Lied erklingen,
Denn jeder Wipfel bot mir frische Kränze.
- Das lyrische Ich blickt auf frühere Zeiten zurück
- und fragt sich, wo es im nächsten Frühling sein wird.
- Der Zeitpunkt ist wohl ein Fest gewesen,
- bei dem Hüte und frische Kränze eine Rolle spielten.
- Auf jeden Fall wird angedeutet, dass des Lebens ganze Fülle vor dem lyrischen Ich (noch) lag.
—
Ich wusste nur, dass rings der Frühling glänze,
Dass nach dem Meer die Ströme leuchtend gingen,
Vom fernen Wunderland die Vögel singen,
Da hatt das Morgenrot noch keine Grenze.
- Diese Strophe konzentriert sich auf das geringe Wissen des lyrischen Ichs,
- das noch wenig Vorstellungen hat vom Leben und seinen Wegen.
- Die Vorstellungen waren geprägt von Optimismus und dem Glauben, dass es viele schöne Dinge gab, die wohl als erreichbar angesehen wurden.
- Im Einzelnen geht es um die Erfahrung des Frühlings, dem noch keine andere Jahreszeit zugesellt wird.
- Dazu kommen Flüsse, die „leuchtend“ dem Meer entgegenströmen – wohl eher eine Vorstellung der Fantasie, denn es gibt wohl kaum einen realen Ort, von dem mehrere Ströme ausgehen.
- Am deutlichsten wird die Traumvorstellung am „fernen Wunderland“, wo es nur singende Vögel gibt.
- Dann die Zusammenfassung, dass das Morgenrot als Beginn des Tages und wohl auch des echten Lebens als Erwachsener „noch keine Grenze“ kennt.
—
Jetzt aber wirds schon Abend, alle Lieben
Sind wandermüde längst zurückgeblieben,
Die Nachtluft rauscht durch meine welken Kränze,
- Die beiden Terzette wenden sich dann im Sonett der Gegenwart zu.
- Die ist vom Abend geprägt, wohl auch dem Lebensabend,
- bei dem „alle Lieben“ „wandermüde“ (wohl ein Euphemismus für Tod oder sonstiges Verschwinden) „zurückgeblieben“ sind.
- Die Gegenwart iste geprägt durch „Nachtluft“ und „meine welken Kränze“, was wohl für die vergangenen Hoffnungen steht.
—
Und heimwärts rufen mich die Abendglocken,
Und in der Einsamkeit frag ich erschrocken:
Wo werde ich wohl sein im künftgen Lenze?
- Die letzte Strophe verbindet dann den Abend mit Glockenklang, die das lyrische Ich „heimwärts“ rufen, was wohl auf Tod und Ewigkeit hindeutet. Inwieweit das sonst für Eichendorff typische Gefühl existenzieller Geborgenheit in dem Wort „heimwärts“ mitschwingt, bleibt offen, vor allem wenn man das „erschrocken“ der zweiten Zeile im Zentrum sieht.
- Das Verschwinden aller lieben Begleiter des Lebens wird jetzt in „Einsamkeit“ wieder aufgenommen.
- Und die lebens- und zukunftsfrohe Frage des Anfangs wird noch mal aufgenommen, allerdings mit wenig verbliebenen Perspektiven. Fast liest man das so, dass das lyrische Ich nicht einmal damit rechnet, das kommende Frühjahr lebend oder ausreichend gesund zu erreichen.
Aussagen des Gedichtes – Intentionalität
Das Gedicht zeigt:
- die Hoffnungen und noch unklaren Erwartungen, die mit der Jugend verbunden sind,
- die mit eher unrealistischen romantischen Vorstellungen verbunden sind
- und denen dann die aktuelle Gegenwart des Alters entgegengesetzt wird,
- wo die Frage nach der Zukunft bleibt,
- sich aber dramatisch verengt hat,
- wobei vor allem das Verschwinden der „Lieben“ beklagt wird.
- Typisch für Eichendorff ist der angedeutete religiöse Bezug in „Abendglocken“, der aber im Unterschied zu anderen Gedichten von ihm nicht mit einer positiven Perspektive auf eine himmlische Heimat gefüllt wird.
- Offen bleibt, was es hier mit der Verspätung auf sich hat, die im Titel angedeutet wird: Die einfachste Antwort ist wohl, dass es hier nur um ein spätes Noch-Dasein geht. Vielleicht meint das lyrische Ich, dass es versäumt hat, rechtzeitig mit den anderen zugehen, bevor es nur noch „welke Kränze“ sieht und wenig Hoffnung auf noch etwas Schönes hat.
Zur künstlerischen Eigenart des Gedichtes:
- Das Entscheidende ist die Frage, die am Anfang des Gedichtes gestellt wird und dann am Ende wieder auftaucht – nur in einem anderen Lebenszusammenhang und dementsprechend auch verbunden mit anderen Gefühlen. Das ist der entscheidende künstlerische Einfall.
Er wird verbunden mit „erschrocken“, was deutlich macht, dass etwas Ähnliches oder gar Gleiches, in diesem Falle eine Frage bei verstrichener Zeit und deshalb auch in einer anderen Situation schon einen heftigen Effekt auslösen kann. - Ansonsten ist der Titel interessant, weil er zum Nachdenken über das „Verspätet-Sein“ zwingt, was mit den beiden Frage-Situationen zusammenhängt.
- In der ersten Strophe ist sind die „Kränze“ ein Symbol für das Festliche, das das lyrische Ich in eine fröhliche Stimmung versetzt, was sich dann im „Hüteschwingen“ ausdrückt..
- Ein weiteres Mittel ist die Aneinanerreihung der romantisch-unrealistischen Vorstellungen, die in der zweiten Strophe präsentiert werden.
- Dann die Doppelbedeutung des Abends – bezogen auf den Tag, aber auch auf das ganze Leben.
- Dazu kommt der euphemistische Neologismus „wandermüde“, der schmerzliche Erfahrungen mit lieben Menschen auf etwas Harmloses reduziert.
- Es folgt der Gegensatz zwischen den „welken Kränzen“ im Vergleich zu den vormals „frischen Kränzen“.
- „Heimwärts“ und „Abendglocken“ sind bei Eichendorff christliche Motive, die hier aber das Erschrecken nicht aufheben können.
- Insgesamt spielt der Sonett-Charakter hier natürlich auch eine Rolle: Die ersten beiden Strophe präsentieren den breiteren Quartett-Raum der Vergangenheit, die folgenden Sonette engen ihn auch reim vom Zeilenumfang her ein.
Einordnung in das Gesamtwerk und kreativer Impuls
- Wenn man Eichendorffs sonstigen Optimismus im Hinblick auf einen letztlich von Gott behüteten Lebensweg einbezieht, kann man das Gedicht durchaus aus Ausdruck einer momentanen, altersbedingten Niedergeschlagenheit verstehen, die am nächsten Morgen schon wieder anders aussehen kann.
- Das macht die Aufgabe spannend, dieses Gedicht entsprechend kreativ fortzusetzen, etwa indem das lyrische Ich am Ende durch etwas auf seine sonstige Gelassenheit und das Gefühl der existenziellen Geborgenheit aufmerksam gemacht wird.
Vergleichen kann man dieses Gedicht mit
Georg Trakl, „Der Wanderer“
https://www.einfach-gezeigt.de/trakl-wanderer
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Reisegedichte – unterwegs sein
https://textaussage.de/reisegedichte-themenseite
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos