Else Lasker-Schüler, „Ein Lied“ – wie man ein Gedicht „auf die Schnelle“ analysiert (Mat2463)

Worum es hier geht:

Wer sich mal anschauen möchte, wie wir versuchen, das Gedicht „auf die Schnelle“ zu interpretieren, kann das hier tun:

Wer Schwierigkeiten hat, das Gedicht überhaupt vom Wortlaut her zu verstehen, kann sich mal unsere Erklärung auf der folgenden Seite anhören:

https://schnell-durchblicken.de/audio2463

Else Lasker-Schüler

Ein Lied

Hinter meinen Augen stehen Wasser,
Die muß ich alle weinen.

  • Das Gedicht beginnt mit einer ungewöhnlichen Vorstellung vom Weinen-Müssen.
  • Die Tränen rinnen noch gar nicht.
  • Aber der Druck ist schon mal da – und der ist sehr groß, was „Wasser“ im Plural ausdrückt.

Immer möcht ich auffliegen,
Mit den Zugvögeln fort;

  • Die zweite Strophe präsentiert dann den Fluchtwunsch – und zwar geht es um Fliegen, also die maximale Entfernung von allem, was unten ist.
  • Außerdem geht es um den Anschluss an die Zugvögel -also jene natürliche Ordnung, die Weite mit Zuflucht verbindet.

Buntatmen mit den Winden
In der großen Luft.

  • Die dritte Strophe versucht sich dann an einer Beschreibung dessen, was man auf so einer Zugvögel-Reise tun kann.
  • Es geht um Luftholen, also das, was sein muss, und es geht um Buntes, also Vielfältiges.
  • Das wird in diesem Neologismus ausgedrückt.
  • Zu der schon vorhandenen Vorstellung der Weite des Zugvogel-Reisens kommt noch „in der großen Luft“, eine ungewöhnliche Beschreibung, die aber wohl Freiheit ausdrücken soll.

O ich bin so traurig – – – –
Das Gesicht im Mond weiß es.

  • Jetzt endlich blickt das lyrische Ich von dieser gedachten bzw. gewünschten Reise wieder zum Ausgangspunkt zurück.
  • Es stellt – recht minimalistisch – fest, dass es „so traurig“ ist – und sorgt durch vier Gedankenstriche für Klarheit, warum es sich hier sprachlich so begrenzt – das ist das Gegenstück zur großen Trauer. Je größer die ist, desto weniger kann man sie aussprechen, denn das wäre schon Erleichterung wie der Tränenfluss am Anfang – der sich offensichtlich auch noch nicht gelöst hat.
  • Dann wendet es sich an den Mond, glaubt, dass es dort ein „Gesicht“ gibt, das um den eigenen Kummer weiß.

Drum ist viel sammtne Andacht
Und nahender Frühmorgen um mich.

  • Dieser Blick nach oben lässt so etwas wie Andacht entstehen – die verbunden wird mit einem Stoff, der zur Feierlichkeit passt.
  • Auch deutet sich an, dass das lyrische Ich bald Gelegenheit hat, sich auf etwas Neues einzustellen, das den alten Kummer vergessen lässt.

Als an deinem steinernen Herzen
Meine Flügel brachen,

  • Aber das lyrische Ich ist verständlicherweise noch weit vom Happy End entfernt, denn im Moment des sich Lösen-Wollens kommt die Erinnerung an die gebrochenen Flügel zurück – damit schwindet die Möglichkeit, mit den Zugvögeln zu reisen.
  • Und alles wurde ausgelöst vom „steinernen Herzen“ des Gegenübers, des Partners.

Fielen die Amseln wie Trauerrosen
Hoch vom blauen Gebüsch.

  • Hier versucht das lyrische Ich zu beschreiben, was dieser Moment der maximalen Enttäuschung und Verletzung in ihm ausgelöst hat.
  • Es sind Vögel in ihrer Fantasie, die das Gegenteil vom Fliegen erleben, nämlich das Fallen, was verglichen wird mit einer Blume, die für Trauer steht und hier mit dem Fallen der Blüten verbunden wird.
  • Zurück bleibt die Vorstellung vom „blauen Gebüsch“, also einem Ort, in dem Vögel Ruhe finden und das von der Farbe her an die Romantik erinnert.

Alles verhaltene Gezwitscher
Will wieder jubeln

  • Dann wieder die Wende, es gibt schon wieder Gezwitscher, also erste und noch leise Laute der Vögel, die auch noch verhalten sind, also nicht die volle Kraft entfalten.
  • Aber das lyrische Ich stellt sich wohl vor, dass es mit diesen Lebenwesen „jubeln“ will.
  • Es bleibt offen, worüber – aber es geht wohl um das Gefühl, dass nach der Nacht ein neuer Tag beginnt.

Und ich möchte auffliegen
Mit den Zugvögeln fort.

  • Der Schluss verspricht nichts,
  • drückt aber den festen und abschließenden Wunsch aus,
  • das nun zu tun, was es sich vorher schon vorgestellt hat,
  • nämlich „auffliegen“ – ein schönes Wort für das Zurücklassen der Erdenschwere.
  • Dazu kommt der schon besprochene Anschluss an den Inbegriff natürlichen Massenfluges – als Teil einer Gemeinschaft.
Das Gedicht zeigt
  1. von Anfang an ein Nebeneinander von Trauer und Wunsch, sich davon zu lösen,
  2. was vor allem mit dem Fliegen der Zugvögel verbunden wird.
  3. Ein zweiter Kontrast ist das verstehende Gesicht des Mondes
  4. und das Herz aus Stein des Menschen,
  5. der beim lyrischen Ich die Flügel gebrochen hat.
  6. Aber dabei bleibt es nicht – zumindest der Wunsch nach Aufbruch in einen neuen Morgen – in eine neue Gemeinschaft – ist deutlich.
  7. Offen bleibt, welche Rolle die gebrochenen Flügel dabei spielen – es spricht einiges dafür, dass das nur ein Bild für den Moment des Enttäuscht-Werdens darstellt und den so sehnlichst gewünschten Aufbruch, der eigentlich ein Auf-Fliegen ist, verhindern kann.
  8. Denn das Ganze ist ein Lied, das heißt: Der Moment der Trauer, die in Gedankenstrichen verstummt, ist vorbei – und damit ist zumindest ein seelisches Wieder-Abheben wohl möglich oder schon gegeben.

Zur nachträglichen Diskussion der Interpretation dieses Gedichtes:
  1. Interessant ist die Hypothese, das steinerne Herz könne auch für einen Toten stehen. Das muss man dann gut begründen. Vorteil ist auf jeden Fall, dass es sich hier um eine sehr isolierte Stelle handelt, die man nur in einen überzeugenden Erklärungszusammenhang mit dem Rest bringen muss.
  2. Das Gedicht auf den Krieg zu beziehen, nur weil es im Ersten Weltkrieg entstanden ist, ist eher problematisch, weil hier Außen-Informationen für die Interpretation genutzt werden, die möglicherweise schwer mit den Signalen des Textes in Einklang zu bringen sind.
  3. Als Leser darf man aus einem poetischen Text alles „heraus verstehen“, was man selbst denkt und empfindet.
  4. Wenn es allerdings um Wissenschaft geht – und darauf läuft das Interpretieren in der Schule hinaus, sollte man sich auf das konzentrieren, was zumindest ansatzweise konsensfähig ist.
  5. Und im Zweifel gilt immer, dass der Text recht hat und der Interpret sich ihm beugen muss.
  6. Hier kommt es letztlich auf die Begründung der eigenen Interpretation an: Das ist wie in Mathematik: Wenn man sich da mal an einer Stelle verrechnet, der sonstige Rechenweg aber okay ist, kann man das bei der Bewertung positiv berücksichtigen – ob das bei einer Deutschklausur geht, hängt vom Lehrer ab – und der hat ja einige Spielräume.

Weitere Infos, Tipps und Materialien