Worum es hier geht:
Auf der Seite
https://schnell-durchblicken.de/deutungsansaetze-zum-roman-heimsuchung
haben wir Deutungsansätze zum Roman „Heimsuchung“ zusammengestellt – mit Video-Begleitung.
Die intensive Beschäftigung mit der Frage, „wozu der Roman in der Schule gut ist“, hat uns zu Überlegungen geführt, die Anders Tivag für uns in einem Kurz-Essay zur Diskussion stellt.
Der Essay im Wortlaut
Anders Tivag,
Warum man Goethe braucht, wenn man von einem Roman „heimgesucht“ wird
Überlegungen zum Füllen der Lücke, die im Roman bleibt.
Als Jenny Erpenbecks Roman *Heimsuchung* zur Pflichtlektüre erklärt wurde, fragten sich viele, was Schülerinnen und Schüler damit eigentlich anfangen können. Denn die große Begründung, es handle sich um einen „Jahrhundertroman“, wirkt bei näherem Hinsehen fast wie ein Scherz: Das Jahrhundert ist hier nichts anderes als der Hintergrund für einzelne Schicksale, die jeweils von persönlichen Heimsuchungen geprägt sind.
Wenn man diese Begründung für die Wahl des Romans zurückweist und sich auch nicht für die Lebensgeschichte der Autorin interessiert, dann muss man selbst nach einer tragfähigen Begründung suchen. Erstaunlicherweise ist sie im Roman selbst angelegt. So verstörend die naturkundliche oder erdgeschichtliche Einleitung im Prolog zunächst wirkt, so viel Sinn gewinnt sie im Verhältnis zum Epilog. Dort begegnet uns eine Miniaturfassung derselben Idee: Die Arbeiter haben kein Haus mehr vor sich, nur noch Trümmer architektonischer Bemühungen. Sie sitzen im Gras, lehnen sich an einen Baum – eine Szene, die fast schon urgeschichtlich anmutet. Die Natur gleicht nach einer Phase der „Verwüstung“ am Ende „wieder sich selbst“.
Daraus lässt sich schließen: Dieser Roman ist nicht nur kein Jahrhundertroman, er ist ein Roman, der menschliche Existenz in einen kosmischen Rahmen einbettet und ihr damit auf den ersten Blick jede höhere Bedeutung nimmt. Das erklärt auch den mitleidlos wirkenden, distanzierten Erzählstil. Man kann das so verstehen, dass Erpenbeck eine post-religiöse oder post-ideologische Sicht auf die Welt präsentiert, wie sie typisch ist für das moderne Denken seit den Erschütterungen des Selbstbewusstseins an der Wende zum 20. Jahrhundert (Einstein, Freud, Le Bon u.a.).
Wenn die Beschäftigung mit Literatur in der Schule überhaupt einen Sinn hat, dann den: Man sucht nach etwas, was einen nicht noch kleiner macht, als man sich vielleicht schon fühlt. Vielmehr nach etwas, an dem man sich „aufrichten“ kann – Kraft findet für ein sinnvolles Leben, das mehr ist als ein kurzes, kaum sichtbares und schnell wieder verschwundenes Aufflackern im Weltall.
Hier kann man erstaunlicherweise auf Goethe zurückgreifen. Der hat nämlich anscheinend Erpenbecks Roman schon vorausgesehen. Zumindest präsentiert ein Teil des Gedichtes „Das Göttliche“ eigentlich die gleiche Aussage wie „Heimsuchung“:
In der 3. Strophe heißt es – und das ist „Heimsuchung“ pur, wenn man die nächsten beiden Strophen hinzunimmt.
Das Gedicht findet sich u.a. hier.
Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös’ und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen, wie dem Besten
Der Mond und die Sterne.
Und anschließend beschreibt Goethe, wie das Schicksal einen alten Mann genauso treffen kann wie ein Kind. Das ist genau das, was die Figuren des Romans mehr oder weniger erfahren.
Aber Goethe belässt es nicht dabei. Er setzt hinzu: Der Mensch kann der Unerbittlichkeit des Schicksals etwas entgegensetzen, er kann „heilen und retten“, ja sogar „dem Augenblick Dauer verleihen“.
Woran Goethe dabei denkt, wird gleich am Anfang hervorgehoben: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Was den Titel angeht, es kommt für Goethe nicht auf den Glauben an Götter an, sondern darauf, dass er das Göttliche in sich pflegt und nutzt, ganz gleich, wo es herkommt.
Interessant sind an dieser Stelle zwei Schriftsteller, die hier etwas beigetragen haben.
Da ist zunächst der Aufklärer Voltaire, der am Ende seines Romans „Candide“ einen Menschen im Osmanischen Reich vorstellt. Der interessiert sich nicht für große Ereignisse in der Ferne, die er sowieso nicht beeinflussen kann – stattdessen konzentriert er sich voll auf die Früchte in seinem Garten.
Das ist noch nicht so ganz im Sinne Goethes, aber eine notwendige Voraussetzung, was der Barockdichter Matthias Claudius mitten im schlimmsten Leid des Dreißigjährigen Krieges geschrieben hat. Denn er möchte, dass wir auch an unseren kranken Nachbarn denken – der häufig bei der Weltrettung vergessen wird.
Schlagen wir nun den Bogen zum Anfang zurück: Erpenbecks Roman macht deutlich, dass menschliche Schicksale die Natur und die Geschichte nicht groß interessieren. Wohl aber kann jeder Mensch für sich überlegen, wie Menschlichkeit im Sinne von „edel, hilfreich, gut“ aussieht.
Die Welt wird dann mit Sicherheit ein bisschen heller – und der Roman „Heimsuchung“ hat mit Goethe zusammen seinen verdienten Platz im Deutschunterricht.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Infos, Tipps und Materialien zum Roman „Heimsuchung“ von Jenny Erpenbeck
https://schnell-durchblicken.de/themenseite-heimsuchung
— - Youtube-Playlist zum Roman „Heimsuchung“
https://www.youtube.com/playlist?list=PLNeMBo_UQLv3HeM299xejKEGxQIEM_eEY
— - Essay – in der Schule: Was ist das, wie schreibt man so etwas?
https://textaussage.de/thema-essay-infos-tipps-und-materialien-themenseite
— - Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos
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