Experiment: Die fünf Szenen in Borchert, „Draußen vor der Tür“ und das Fünf-Akte-Schema Freytags (Mat567-lfa)

Ausgangspunkt:

Am Schluss des Dramas beschreibt Beckmann die fünf Akte des Lebens.

Man fragt sich, warum er diese Beziehung zwischen dem klassischen Drama und seinem Leben herstellt.

Dann kommt man auf die Idee, die fünf Szenen mal zu überprüfen, ob sie dem Fünf-Akte-Schema entsprechen.

Versuch einer Synchronisation mit Freytags Dramenschema:

1. Szene – Exposition

Ort: Am Wasser, nachts, Beckmanns Monologe mit dem Anderen
Funktion: Einführung von Figur, Grundkonflikt, seelischem Zustand

Passt erstaunlich gut.
Wir lernen Beckmann als Kriegsheimkehrer kennen, erleben seine Isolation, seine suizidale Verzweiflung und das Grundmotiv: der Mensch steht draußen vor der Tür. Die Szene liefert das „Setting der Seele“ statt eines äußeren Handlungskonflikts. Also: Exposition in Seelenform.

2. Szene – Steigende Handlung

Ort: Beim Mädchen zu Hause
Funktion: Hoffnung keimt auf, aber das Gespenst der Vergangenheit stört

Funktional passend, aber strukturell offen.
Beckmann tritt in Beziehung, wird eingeladen, es gibt Wärme, Körperlichkeit, Hoffnung. Doch der Einbeinige (sein Schuldkörper?) erscheint. Der Moment kippt – aber man hat kurz geglaubt, es könnte aufwärts gehen. Eine Steigerung im Sinne einer „Illusionsbewegung“, die gleich wieder zerschellt. Also: Ja, wenn man das Drama als seelisches Pendeln liest.

3. Szene – Höhepunkt / Peripetie

Ort: Beim Oberst
Funktion: Konfrontation mit Verantwortung, erschütterndes Traumgeständnis

Hier wird’s spannend – denn das ist kein klassischer Wendepunkt, sondern eher ein nihilistischer Klimax.
Beckmann will die Verantwortung zurückgeben. Der Traum vom Knochenxylophon ist vielleicht das bildmächtigste Moment des Stücks. Aber es folgt keine Wendung – keine neue Richtung. Eher: eine radikale Erkenntnis der Ausweglosigkeit.
→ Also: Ein Wendepunkt ins Nichts. Oder: Höhepunkt der Vergeblichkeit.

4. Szene – Fallende Handlung / Retardierendes Moment

Ort: Beim Kabarettdirektor
Funktion: Rückweisung, Verharmlosung, Beckmann wird zum „lustigen Gespenst“

Formell passend, inhaltlich bitter.
Beckmann bietet seine Geschichte als Kunst an – und wird erneut ignoriert. Seine Wahrheit stößt nicht auf Ablehnung im klassischen Sinn, sondern auf Entertainmentlogik. Das retardierende Moment: Noch einmal eine Tür, aber diesmal lächerlich verzogen.
Fallende Handlung im Sinne der Entblößung des Systems.

5. Szene – Katastrophe

Ort: Rückkehr zum Elternhaus
Funktion: Zuhause existiert nicht mehr, Namen verschwinden, Türen bleiben zu

Ein „tragisches Ende“, das nicht durch Tod, sondern durch Auslöschung erfolgt.
Beckmann verliert endgültig sein letztes Zuhause. Sein Name ist nicht mehr da – und damit seine Geschichte. Er steht buchstäblich und symbolisch draußen vor der Tür.
Katastrophe in der Form der Entindividualisierung. Kein Tod, aber ein völliges Verschwinden.

Fazit des Experiments:

Ja – man kann es wagen. Aber man merkt beim Gehen, dass der Boden nicht mehr aus klassischer Dramenerde besteht, sondern aus Trümmern.

Die Pyramide stürzt nicht ein – aber sie steht schief.
Beckmann erklimmt sie nicht wie ein tragischer Held, sondern rutscht an ihren Kanten ab. Das Drama folgt nicht dem klassischen Spannungsbogen, sondern einem „Seelenbeben“, das in jeder Szene etwas zerschlägt.

Didaktische Pointe:

Gerade durch diesen Vergleich lernt man viel:

  • Was klassische Dramaturgie meint
  • Warum Borcherts Formbruch sinnvoll ist
  • Wie Struktur als Erkenntnismittel funktionieren kann – auch im Scheitern

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