Fach-Impulse für die Besprechung des Gedichtes „Die gespiegelte Stadt“ von Oskar Loerke (Mat8692-fimp)

Worum es hier geht:

  • Wir wollen hier allen helfen, die sich mit diesem Gedicht etwas genauer beschäftigen wollen.
  • Und zwar auch unter Einbeziehung
    • der Entstehung
    • der Rezeption (wie wurde es und wird das Gedicht aufgenommen?)
    • besonderer Aspekte, bsd. auch der Aktualität
    • und ggf. auch Anregungen zum kreativen Umgang mit dem Gedicht.

Das Gedicht haben wir der folgenden Gedichte-Sammlung entnommen, die im Internet hier gefunden werden kann.

Interpretationshilfen für Schüler und Schülerinnen sind hier zu finden:
https://schnell-durchblicken.de/schnell-check-des-gedichtes-die-gespiegelte-stadt-von-oskar-loerke

Hier mit besonderen Hinweisen auf den Weg zum optimalen Verständnis:
https://schnell-durchblicken.de/detail-ueberlegungen-zum-gedicht-die-gespiegelte-stadt-von-oskar-loerke

Tipps für Lehrkräfte und besonders interessierte Schülis

  1. Entstehung:
    Das Gedicht stammt aus dem Jahr 1916 – mitten im Ersten Weltkrieg. Der Dichter Oskar Loerke lebte damals in Berlin.
  2. Darstellung der Stadt:
    Berlin wird als düstere, verregnete Großstadt dargestellt. Das Bild der Stadt spiegelt sich in Pfützen – alles wirkt verzerrt und unheimlich.
  3. Thema:
    Im Zentrum steht die Erfahrung von Einsamkeit, Verlorenheit und Orientierungslosigkeit in der Großstadt , verbunden mit Angst vor einer unbekannten, aber schon heranrollenden Bedrohung.
  4. Signalbündelung -> Struktur -> Aussage
    An einem Schaubild unten zeigen wir, wie man versuchen kann, das Gedicht in seiner Ziel- und Ausrichtung zu verstehen.
  5. Wirkung:
    Das Gedicht erzeugt durch Sprache und Bilder eine bedrückende Stimmung. Die Welt wirkt kalt, fremd, ungewiss und löst Ängste aus.
  6. Spiegelung:
    Das Spiegelmotiv zieht sich durch das ganze Gedicht. Die Realität erscheint doppelt, aber auch verzerrt.
  7. Interpretationshilfe:
    Das Gedicht kann als Ausdruck der Gefühlslage zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelesen werden – viele Menschen fühlten sich überfordert, entwurzelt und bedroht.
  8. Stil
    Die Sprache wirkt – typisch für den Expressionismus – sehr akzentuiert (1,3), außerdem bildreich und andeutungsschwer.
  9. Literarische Einordnung:
    Häufig wird das Gedicht dem Expressionismus zugeordnet. Gleichzeitig passt Loerke nicht ganz in diese Schublade – sein Stil ist eigenständig und enthält auch Anklänge an die Romantik (Strophe 4).
  10. Didaktischer Zugang:
    Gut geeignet für eine Unterrichtseinheit zur Großstadtlyrik oder zur literarischen Moderne. Auch als Einstieg in Themen wie Wahrnehmung, Ich-Erfahrung oder Zivilisationskritik.
  11. Tipp:
    Im Unterricht kann man gut mit dem Bild der gespiegelten Stadt arbeiten: Was sehen wir – und was sehen wir nicht?
    Statt der schwierig zu übertragenden Spiegel-Situation könnte man sich Fotosituationen bei ganz unterschiedlichen Licht- und Wetterverhältnissen vorstellen.
    Hier kann man die künstliche Intelligenz mal entsprechende Bildkompositionen erstellen lassen.

Hier noch einmal das Gedicht

Dann kann man unsere Infos und Anregungen gleich am Text überprüfen.

Außerdem nutzen wir das hier, um uns den Aufbau des Gedichtes in einer Skizze klarzumachen. (siehe unten)

 Oskar Loerke

Die gespiegelte Stadt

  1. Der Regen fällt. Berlin durchhallt die kalte
  2. Sintflutmusik der Nacht. Der Regen fällt.
  3. Noch ein Berlin, steil auf den Kopf gestellt,
  4. Versinkt umgraut, verschwommen im Asphalte.
    • Strophe 1: Allgemeine Situation mit anschließender Fokussierung auf ein Detail, das wohl zum Lyrischen Ich überleitet.
      -> Strophe 2
  5. In steifen Prozessionen stehn Laternen
  6. Und glühn tief unter sich, und schwarzer Stein
  7. Scheint alle Leere, aller Raum zu sein
  8. Bis in des Himmels stumpf geballte Fernen.
    • Der Blick weitet sich in die nähere Umgebung und schwenkt dann zum Himmel hoch.
      -> Strophe 3
  9. Im Stein stehn Bilder, gleich vergessnem Truge
  10. Magnetisch an die obre Welt geklebt.
  11. Sinds Häuser? Straßen? Leben kommt und schwebt
  12. Verkehrt, verwünscht, gleich einem Faschingszuge.
    • Konzentration auf die Stadt und Übergang zu den Menschen, die die Straßen füllen.
      -> Strophe 4
  13. Die Menschen wollen in den Himmel schwinden,
  14. Hinab, gleich Blättern, vom Asphalt geweht,
  15. Hinab in sinkend schönem Kreis gedreht,
  16. Sich selig in die Wettertiefe winden.
    • Schwerpunkt die Menschen zwischen dem Drang nach oben und der realen Erdenschwere mit der Perspektive der Vergänglichkeit, die aber hier in ein angenehmes Licht getaucht wird.
      -> Strophe 5
  17. Doch ihre Sohlen haften an den Steinen,
  18. Ganz oben hält sie traurige Gewalt.
  19. Die leichtre Welt im Spiegel aus Asphalt
  20. Und die darüber bleiben in der einen.
    • Neue Perspektive: Die Schwere der Normalität, von der die Menschen in der Realität aber abgehalten werden.
    • -> Strophe 6
  21. Und immer schwerer stürzt und stürzt der Regen.
  22. Des Abgrunds Himmel brüllen wie ein Meer.
  23. Im Nichts den Fuß, hoch geh ich drüber her.
  24. Schwermütig kommt das leere Nichts entgegen.
    • Verstärkung der Regensituation zur Flut, als bedrohlich empfunden
      Verschärfung der Trennung zwischen dem Abgrund in der  Regenpfütze und der eigenen Situation, hoch darüber.
    • Gegenbewegung: Annäherung des „Nichts“, verbunden mit Schwermut
      Interessante Verlagerung des eigenen Empfindens in die Pfützenwelt. 
      Insgesamt also eine sehr vielschichtige Strophe.
    • -> Strophe 7
  25. Die Wagen stehn vermummt in Lederkutten,
  26. Wer unterm nassen Leder sitzt, vermummt;
  27. Turmtief von einem Hause sehn verstummt
  28. Zwei nackte tote Knaben, Sandsteinputten:
    • Blickwechsel in die nähere Umgebung mit wartenden Wagen
    • Vorstellung von den Menschen, die in diesen Wagen sitzen, „vermummt“, also schwer gesichert gegen das Wetter
    • Dann Zufallsblick auf zwei Statuen, anscheinend wieder Spiegelblick ins Wasser.
    • Interessant, dass das Tot-Sein bei den Statuen betont wird.
    • -> Strophe 8
  29. Halb graues Chaos schon und nur zu ahnen,
  30. Sie horchen in die wüste Nacht aus Stein
  31. Und schreiten Hand in Hand matt aus dem Sein,
  32. Der dumpfen Ungewißheit Untertanen.
    • Näheres Eingehen im Sinne eines Sich-hinein-Fantasierens – den Statuen wird wohl das zugesprochen, was das lebende lyrische Ich in sich spürt.
    • Man hat den Eindruck von Auflösung – „graues Chaos“ und „aus dem Sein“.
    • Das wird verbunden mit einer grundsätzlichen Ungewissheit, der man wohl als Mensch unterworfen ist.
    • Typisch sehr persönliche und schwer nachvollziehbare Assoziationen, wie sie typisch sind für den Expressionismus: Das Innere wird nach außen verlagert.
    • -> Strophe 9
  33. Und ich auch schreite, Knecht des Ungewissen,
  34. Die Bilder deutend, jenseits aller Zeit.
  35. Voll ungeheurer Traumestraurigkeit
  36. Umschweben sie im Schlaf noch meine Kissen:
    • Der Gedanke der „Ungewissheit“ wird aufgenommen und jetzt eindeutig vom lyrischen Ich auf sich bezogen.
    • Das Moment des Zeitverlustes kommt hinzu.
    • Ganz offen wird Traum mit Traurigkeit verbunden.
    • Am Ende wird dieses ganze Gedicht als innere Bilderwelt verstanden, die einen sogar im Schlaf „umschweben“.
    • Interessant, dass es hier die Kissen sind, die umschwebt werden – könnte noch eine Rest-Distanz andeuten. 
    • -> Strophe 10
  37. Nichts war mehr, außer unter meinem Fuße
  38. Die große Stadt; die hing von Türmen schwer,
  39. Wie Stalaktiten überm Himmelsmeer,
  40. Ganz schwarz, ganz still, im Krampf der Todesmuße.
    • Die ganze Wahrnehmung konzentriert sich nur noch auf die Pfützenwelt.
    • Auch hier wieder eine Andeutung von Vergänglichkeit, konkretisiert in einer Verbindung von Tod und Muße (eigentlich schönes Nichtstun).
    • -> Strophe 11
  41. Die sternentief entfernten Weiten schollen,
  42. Die Düsternisse wetterleuchteten,
  43. Daß Ängste meine Schläfen feuchteten,
  44. Vulkanisch murrend wuchs und wuchs ein Rollen –
    • Wiederaufnahme der Akustik des Anfangs – Reste der „Sintflutmusik“.
    • Dann wieder ein Begriff, der auf Unwetter hindeutet.
    • Was hier Ängste auslöst.
    • Am  Ende dann ein weiteres akustisches Signal, was weit entfernt ist von Musik und sich her mit einer andrängenden Gewalt verbinden lässt.

Das Schaubild

Für eine kritisch-konstruktive Diskussion gedacht – als Anregung für eigene Entwürfe.

Erläuterung des Schaubildes:

  1. Das Gedicht hat eine horizontale Struktur – Strophenentwicklung.
    Und eine vertikale, die den realen Himmel oben und den auf die Stadt, ihre Menschen und das lyrische Ich fallenden Regen verbindet.
    Schließlich noch die atmosphärische Entwicklung mit existenziellen Bedrohungs- und Angstelementen.
  2. Links: Die Regen-Sintflut fällt auf die Häuser, die sich unten im Wasser spiegeln. Die Menschen wirken wie an den Regenpfützen-Himmel angeklebt.
  3. Rechts daneben: Der Regen verstärkt sich, wird zu Abgrund und Meer.
    Die Menschen wollen nach oben, sinken aber, sind dabei selig. Ihre Sohlen bleiben davon unberührt in der Realität verankert.
  4. Das lyrische Ich sieht sich dem Nichts ausgesetzt, bleibt aber „hoch“ irgendwie dazwischen.
  5. Rechts daneben krallt sich das lyrische Ich an die Wagen und die vermummten Menschen in ihnen und die Knabenstatuen in der Pfützentiefe. Verbunden werden sie mit Chaos, Seinsverlust, Ungewissheit und „Todesmuße“.
  6. Ganz rechts dann die  Kombination von Bedrohungsszenarien oben und unten und dazwischen die Ängste, die das lyrische Ich umgeben.

Insgesamt macht das Schaubild deutlich,

  • dass der Regen eine Spiegelbildsituation schafft, die wohl für eine bestimmte Sicht des lyrischen Ichs auf die Welt und die Menschen darin steht.
  • Damit ergeben sich Verzerrungen, die zu Ungewissheit führen
  • und eine Situation der Menschen zwischen Versuch, sich nach oben zu entwickeln, aber auch seligem Sinken.
  • Am Ende bleibt das typisch expressionistische Gefühl von Gefahr, und Angst auslösender Bedrohung.

Bildauftrag an ChatGPT

Lass deinen Freund Dall-E mal das Bild einer Schule von außen erstellen mit expressionistischen Assoziationen. Zum einen könnte sich das Dach an einer Stelle zu einem Garten öffnen, zur anderen Seite zu einem Bürohochhaus auswachsen. Einzelne Klassenräume könnten strahlen, andere in ein geisterhaftes Licht getaucht sein – und bei einem versuchen Schüler aus dem Fenster die Regenrinne runterzuhangeln. Über der Eingangstür vielleicht ein „Closed“ Schild o.ä.

Wir brauchten drei Versuche, aber diese Variante ist hoffentlich anregend für  eigene Versuche:

Weitere Infos, Tipps und Materialien