Schnell-Check des Gedichtes „Die gespiegelte Stadt“ von Oskar Loerke (Mat8692)

Worum es hier geht:

  • Im Zentralabitur 2024 ist anscheinend das folgende Gedicht drangekommen und hat bei einigen Prüflingen Fragen ausgelöst.
  • Da uns so etwas immer interessiert, schauen wir uns dieses Gedicht mal an.
  • Dabei konzentrieren wir uns auf den wichtigen ersten Eindruck.
  • Denn das ist eine der größten Gefahrenstellen: Man kommt auf eine Idee und folgt der dann, ohne noch auf andere Möglichkeiten zu achten.
  • Uns ist das oft genug passiert – also schauen wir mal, ob es heute gut geht 😉
  • Schon bei dem anderen Gedicht, das wir gestern „schnell-gecheckt“ haben, hat es sich gelohnt, der Leserlenkung zu folgen. Man lässt sich also von dem, was das lyrische Ich da von sich gibt, durch das Gedicht führen. Dabei muss man natürlich darauf achten, dass man auf Signale achtet, die sich bündeln lassen und letztlich zu einigermaßen sicheren Aussagen führen.
Quelle:

Das Gedicht haben wir der folgenden Gedichte-Sammlung entnommen, die im Internet hier gefunden werden kann.

Zum Video, das aber nur über diese Seite informiert:
Anmerkungen zur Überschrift

Oskar Loerke

Die gespiegelte Stadt

  • Die Überschrift enthält einen wichtigen Hinweis, nämlich Stadt – und da fallen einem gleich die entsprechenden Gedichte des Expressionismus ein.
  • Dann ist da aber dieses rätselhafte Attribut. Es lohnt auch nicht, sich da viele Gedanken zu machen, weil es ziemlich eindeutig in Richtung Metaphorik geht – und die ist ja dadurch gekennzeichnet, dass man zwei Seiten braucht, nämlich neben dem, was das Bild ausdrückt, noch das, was wirklich gemeint ist.
  • Und da sind wir jetzt mal gespannt.

Anmerkungen zu Strophe 1

  1. Der Regen fällt. Berlin durchhallt die kalte
  2. Sintflutmusik der Nacht. Der Regen fällt.
  3. Noch ein Berlin, steil auf den Kopf gestellt,
  4. Versinkt umgraut, verschwommen im Asphalte.
  • In der ersten Strophe geht es offensichtlich um Eindrücke, die sich nachts in einer Großstaddt wie Berlin ergeben können, wenn es regnet.
  • Interessant die Musik-Metapher für den Regen, verbunden mit der Anspielung auf die biblische Sintflut-Überschwemmung.
  • In Zeile 3 dann eine erste Erklärung für die Spiegel-Metapher: Es geht einfach nur darum, dass sich im Wasser, also wohl in den Regenpfützen. gewissermaßen ein zweites Bild der Stadt ergibt.
  • Am Ende dann das Motiv des Untergangs, wenn auch erst mal in einem harmlosen Kontext dieses Regen-Spiegelbildes.

    Strophe 2
  1. In steifen Prozessionen stehn Laternen
  2. Und glühn tief unter sich, und schwarzer Stein
  3. Scheint alle Leere, aller Raum zu sein
  4. Bis in des Himmels stumpf geballte Fernen.
Anmerkungen zu Strophe 2
  • Im nächsten Schritt geht es dann gar nicht mehr um Regen und Spiegelbild.
  • Stattdessen im typischen Stil des Expressionismus die Vorstellung von Stadt-Elementen, verbunden mit dem, was dem lyrischen Ich dazu einfällt.
  • Wir haben ja bei vielen Gedichten des Expressionismus festgestellt, dass es da – anders als im Impressionismus – weniger um die Außenwelt geht als vielmehr um das, was für eine Innenwelt sich dabei ergibt.
  • Hier assoziiert das lyrische Ich einfach die Laternen in der Stadt mit Prozessionen.
  • Dann doch wieder das Spiegelbild, denn das Glühen der Lampen ist jetzt tief unten – im Wasser zu sehen.
  • Es folgt eine stark verallgemeinernde Sicht, die alles um das lyrische Ich nur noch als schwarzen Stein wahrnimmt, eine Art leeren Raum.
  • Das überzeugt erst mal im Laternenlicht nicht so ganz, wird dann aber geklärt, indem deutlich wird, dass es um einen Blick nach oben, also in den Nachthimmel geht.
  • Aber man merkt hier deutlich das Innenleben – so dunkel wird es in der Realität des damaligen Berlin nachts bei Regen wohl nicht gewesen sein.

Strophe 3

  1. Im Stein stehn Bilder, gleich vergessnem Truge
  2. Magnetisch an die obre Welt geklebt.
  3. Sinds Häuser? Straßen? Leben kommt und schwebt
  4. Verkehrt, verwünscht, gleich einem Faschingszuge.
Anmerkungen zu Strophe 3
  • Jetzt wird es etwas schwierig, denn in welchem Stein stehen die Bilder – eben war er doch noch schwarz und eher am Himmel.
  • Ist aber auch gleich – denn es geht ja um das Innenleben des lyrischen Ichs – und was sich da tut, muss nicht immer nachvollziehbar sein.
  • Wir akzeptieren einfach, dass das lyrische Ich jetzt irgendwelche Bilder sieht und sie mit einem Trugbild gleichsetzt.
  • Wieso das aber gleichzeitig vergessen ist, bleibt das Geheimnis des lyrischen Ichs. Macht aber auch nichts, denn wie im Traum kann es mit der Wirklichkeit spielen, muss sich nicht an sie halten.
  • Dann der Hinweis, dass die Bilder anscheinend „an die obere Welt geklebt“ sind und wie mit Magneten, also fest, wenn auch nicht unbedingt dazugehörend.
  • Aber vielleicht bezieht sich das auch eher noch auf gespiegelte Welt im Wasser, wo sich Häuser und Straßen ja eher noch spiegeln können. Oben und unten sind dann eben verkehrt, was soll’s,
  • Wie schön denn, dass das Wort, das wir im Kopf hatten, auch noch direkt erwähnt wird:
    „Leben kommt und schwebt /
    Verkehrt, verwünscht, gleich einem Faschingszuge.“
    Es folgt also hier wieder eine Assoziation, diesmal nicht mehr im kirchlichen, sondern im karnevalistischen Kontext.
    Auf jeden Fall sind die Konnotationen ziemlich eindeutig: „verkehr“ kann noch spiegelbildlich verstanden werden, „verwünscht“ passt dann schon eher zu Trug. Und die Faschingswelt ist ja auch keine reale, sondern eine künstliche Welt.

 

  1. Die Menschen wollen in den Himmel schwinden,
  2. Hinab, gleich Blättern, vom Asphalt geweht,
  3. Hinab in sinkend schönem Kreis gedreht,
  4. Sich selig in die Wettertiefe winden.
Anmerkungen zu Strophe 4
  • Jetzt merkt man besonders stark, wie sehr das lyrische Ich mit seinen eigenen Vorstellungen beschäftigt ist.
  • Denn erstens weiß man nicht genau, wie es zu diesem „schwinden“ kommt. Am besten geht man auch hier von der Regenspiegelung aus.
  • Deutlich ist aber auf jeden Fall das Signal des Verschwindens.
  • Es folgt ein Vergleich, der jedem Barockdichter Ehre gemacht hätte: Menschen sind nur Blätter und werden weg „geweht.“
  • Dann aber folgt nicht der Himmel dieser Epoche des 17. Jhdts, sondern etwas, was wohl eher sich mit „Trug“ und „Fasching“ verbinden lässt.
  • Nämlich die Vorstellung, dass sie zwar sinken, aber „in schönem Kreis“ – und dass sie sich „winden“ (hier wohl positiv zu verstehen, so wirkt sich halt eine Reimforderung aus) – natürlich „in die Wettertiefe“ – da war doch was mit Regen.

 

  1. Doch ihre Sohlen haften an den Steinen,
  2. Ganz oben hält sie traurige Gewalt.
  3. Die leichtre Welt im Spiegel aus Asphalt
  4. Und die darüber bleiben in der einen.
Anmerkungen zu Strophe 5
  • Jetzt kommt das Problem: Natürlich hängen die Menschen im Spiegelbild am Untergrund fest.
  • Fast ein bisschen komisch, diese „traurige Gewalt“, die das lyrische Ich da sieht – natürlich oben, eben im Spiegelbild.
  • Dann der Vergleich der beiden Welten in der Stadt: Im Wasser ist die „leichtre Welt“ zu sehen – und in der Realität eine Welte, über die man lieber nicht viele Worte verliert, wenn man expressionistisch denkt – denn das geschieht ja meistens kritisch.

 

  1. Und immer schwerer stürzt und stürzt der Regen.
  2. Des Abgrunds Himmel brüllen wie ein Meer.
  3. Im Nichts den Fuß, hoch geh ich drüber her.
  4. Schwermütig kommt das leere Nichts entgegen.
Anmerkungen zu Strophe 6
  • Dann eine Veränderung durch immer mehr Regen, der richtig flutweise herunterkommt.
  • Jetzt wird es schön expressionistisch mit Abgrund und brüllendem Meer.
  • Es folgt eine Selbstbeschreibung des lyrischen Ichs: Es setzt sich offensichtlich in Bewegung – Gedanken sind allein eben kein Dach über dem Kopf. Betont wird das Besondere eines Gangs durch Regenpfützen, nämlich eine Vorstellung von „Nichts“, vor allem, wenn die Brille vielleicht beschlagen ist – und das Bein muss ziemlich hoch gehoben werden.
  • Da kann einem schon mal das „leere Nichts“ „schwermütig“ entgegenkommen.
  • Natürlich sollte man das in der Analyse etwas sachlicher formulieren – aber hier geht es ja um einen Schnell-Check – und ein bisschen Fröhlichkeit ist ein gutes Gegengewicht gegen das, was die meisten Gedichte des Expressionismus in einem auslösen.

 

  1. Die Wagen stehn vermummt in Lederkutten,
  2. Wer unterm nassen Leder sitzt, vermummt;
  3. Turmtief von einem Hause sehn verstummt
  4. Zwei nackte tote Knaben, Sandsteinputten:
Anmerkungen zu Strophe 7
  • Anscheinend immer noch in Bewegung betrachtet das lyrische Ich jetzt die damals vorhandenen Wagen – irgendwas zwischen Kutsche und ersten Automobilen – mit einem Lederdach.
  • Dann der Blick ins Innere, wo man sich angesichts des Wetters „vermummt“ hat.
  • Es folgt anscheinend wieder der Blick in das nasse Spiegelbild – man wird erst ein bisschen erschreckt und kann sich richtig vorstellen, wie der expressionistische Dichter mit seinen Kollegen abends im Café sitzt und nach „Knaben“ eine kurze Pause macht, bevor die Auflösung kommt, Sandsteinfiguren, nichts Schlimmes.

 

  1. Halb graues Chaos schon und nur zu ahnen,
  2. Sie horchen in die wüste Nacht aus Stein
  3. Und schreiten Hand in Hand matt aus dem Sein,
  4. Der dumpfen Ungewißheit Untertanen.
Anmerkungen zu Strophe 8
  • Dann wieder viel Fantasie, die von den Steinfiguren ausgeht und die Umgebung als „graues Chaos“ wahrnimmt:
  • Das lyrische Ich stellt sich vor, was diese Knaben tun (könnten). Sie horchen und schreiten dann – wenn auch sehr statisch – „matt aus dem Sein“. Am besten versteht man das, wenn man davon ausgeht, dass das lyrische Ich mich hochgezogenen Hosenbeinen an ihnen vorbeigeht.
  • Auch ein Verschwinden – aber die Dichter dachten damals weiter – und hier hat man schon einen Anklang an Untergang und Weltende. Nicht von ungefähr haben wir dieses Gedicht auch in einer entsprechenden Sammlung gefunden – siehe oben.
  • Am Ende dann noch ein bisschen Lebensgefühl nach den Zeiten des Idealismus und der selbstsicheren Bürgerlichkeit. Man kann zum Beispiel an den „Brief des Lord Chandos“ denken, wo dem Protagonisten die Worte im Mund vergehen wie Pilze. Oder man denkt an Sigmund Freud, der den Menschen den Glauben genommen hat, dass in ihrem Oberstübchen alles hell und klar ist.
  • Da kann man sich schon mal als „Untertan“ fühlen, wenn auch anders als die meisten anderen Menschen im Kaiserreich.
  1. Und ich auch schreite, Knecht des Ungewissen,
  2. Die Bilder deutend, jenseits aller Zeit.
  3. Voll ungeheurer Traumestraurigkeit
  4. Umschweben sie im Schlaf noch meine Kissen:
Anmerkungen zu Strophe 9
  • An dieser Stelle kann das lyrische Ich sich nur noch überhöhen – man merkt das an dem Edelwort „schreiten“.
  • Es fügt sich selbst in die Gemeinschaft der Untertanen der Ungewissheit ein.
  • Allerdings hat es anscheinend die Kraft und die Fähigkeit, die Bilder zu deuten – „jenseits aller Zeit“ ist es entweder Unsinn, denn niemand kann aus der Zeit heraus – ober wieder eine Überhöhung.
  • Hier hätte man gerne mehr gewusst: Was ist denn nun: Ungewissheit oder Deutung, was ja immer auf erfolgreiche Sinnsuche hinausläuft.
  • Dann geht es nicht ohne Traurigkeit, was das Besondere von ihr ist, wenn sie sich im Traum ergibt, bleibt offen.
  • Immerhin hat das lyrische Ich so viel Klarheit und Gewissheit im Kopf, dass es weiß, was es im Schlaf träumt. Wir wissen das immer nur hinterher. Vielleicht ist das aber auch gemeint.

 

  1. Nichts war mehr, außer unter meinem Fuße
  2. Die große Stadt; die hing von Türmen schwer,
  3. Wie Stalaktiten überm Himmelsmeer,
  4. Ganz schwarz, ganz still, im Krampf der Todesmuße.
Anmerkungen zu Strophe 10
  • In dieser Strophe dann wieder der Blick ins Wasser.
  • Nur dort gibt es für das lyrische Ich noch Wirklichkeit – ist wohl eine Folge der traurig nach unten sich richtenden Perspektive.
  • Es folgt eine Verbindung von Höhlenwelt und Himmelswelt.
  • Dann wird der vorläufige Höhepunkt der dichterischen Depression erreicht: „schwarz“, „still“, „Todesmuße“, was wohl eine Vorstellung von Pause im Tod ist. Wenn der Dichter sich da mal nicht irrt. Die meisten Menschen haben vor mehr Angst als vor einer Mußezeit nach dem Sterben. Vielleicht soll das auch so etwas ausdrücken wie das „Ruhe sanft“ auf Grabsteinen.
  • Der „Krampf“ passt nicht so ganz zu „Muße“. Aber in der Poesie kann man auch durch absolut Gegensätzliches das ausdrücken, was einen bewegt.

 

  1. Die sternentief entfernten Weiten schollen,
  2. Die Düsternisse wetterleuchteten,
  3. Daß Ängste meine Schläfen feuchteten,
  4. Vulkanisch murrend wuchs und wuchs ein Rollen – –
Anmerkungen zu Strophe 11
  • Die Schluss-Strophe und damit die einmalige Chance für den Dichter, noch einen Akzent zu setzen.
  • Hier ist man gespannt, nachdem die „Todesmuße“ schon erreicht worden ist.
  • Am Anfang soll wohl rückblickend deutlich gemacht werden, dass dieses lyrische Ich sich von den Weiten des Alls hat anrufen lassen – dabei hat es doch meistens nach unten ins Wasser geblickt – seltsam.
  • Dann nichts mehr von Straßenlaternen, sondern nur noch „Düsternisse“ und Wetterleuchten – man ahnt es schon, es geht zumindest auf ein Gewitter zu, vielleicht sogar den bei Expressionisten so beliebten Weltuntergang.
  • Die letzte Zeile bestätigt dann diese Vermutung, denn man denkt an Pompeji, für dessen Bewohner ja der Ausbruch des Vulkans wirklich den persönlichen Weltuntergang bedeutete.
  • Warum der Vulkan „murrt“, wenn er sich doch gleich von seinem Innendruck befreien kann – nun ja, die Dichter dürfen alles – und die Expressionisten in besonderer Weise.
  • Und glücklich vermerkt man sich das klug gewählte sprachliche Mittel der Wiederholung in der letzten Zeile, verlässt dann aber doch lieber gleich die Szenerie, denn beim Untergang möchte man nicht so gerne dabei sein – außerdem ist hier ja noch eine Zusammenfassung fällig.
Zusammenfassung:
  1. Fünfhebiger Jambus
    • Unbetonte Silbe,
    • dann betonte
    • und das in ständigem Wechsel
  2. Die Grundidee des Gedichtes sind Eindrücke, die sich dem lyrischen Ich beim Blick in Wasserpfützen bei oder nach Regen ergeben.
  3. Das sich dabei ergebende Spiegelbild steht im Zentrum und gibt Gelegenheit, vieles in Frage zu stellen.
  4. Insgesamt eine gewisse und für den Expressionismus typische ins Traurige hineingehende Nichtigkeitstendenz (14) bis hin zu Todes- und Untergangsfantasien (31 und 44).
  5. Dazu kommt der Aspekt von „Trug“ und Faschingsrealität: Man ist fröhlich, aber nicht in der echten Realität.
    • Möglicher Zusatzpunkt: Vergleich mit Barock
  6. Viele Hinweise auf Unsicherheit.
    • Möglicher Zusatzpunkt: Hinweis auf die geistigen Probleme zu Beginn des 20. Jhdts.

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