Gellert, „Der Blinde und der Lahme“ (Mat694-bul)

Worum es hier geht:

Wir stellen hier ein Gedicht der Aufklärung vor. Es zeigt diese Epoche von ihrer besten Seite: Denn es wird an einem Beispiel gezeigt, wie einfach sich Menschen gegenseitig helfen können – die selbst jeweils ein „Defizit“ haben.

Spannnend wird es, wenn man die Grenzen des Ansatzes untersucht und dann noch Ausschau hält nach Möglichkeiten, diese zu überwinden und das Ursprungsziel doch noch zu erreichen.

Das  Gedicht hier u.a. hier zu finden.

Der Blinde und der Lahme
  1. Von ungefähr muss einen Blinden
  2. Ein Lahmer auf der Straße finden,
  3. Und jener hofft schon freudenvoll
  4. Dass ihn der andre leiten soll.
  5. Dir, spricht der Lahme, beizustehen?
  6. Ich armer Mann kann selbst nicht gehen;
  7. Doch scheint’s, daß du zu einer Last
  8. Noch sehr gesunde Schultern hast.
  9. Entschließe dich, mich fortzutragen,
  10. So will ich dir die Stege sagen:
  11. So wird dein starker Fuß mein Bein,
  12. Mein helles Auge deines sein.
  13. Der Lahme hängt, mit seinen Krücken,
  14. Sich auf des Blinden breiten Rücken.
  15. Vereint wirkt also dieses Paar,
  16. Was einzeln keinem möglich war.
  17. Du hast das nicht, was andre haben,
  18. Und andern mangeln deine Gaben;
  19. Aus dieser Unvollkommenheit
  20. Entspringet die Geselligkeit.
  21. Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
  22. Die die Natur für mich erwählte,
  23. So würd‘ er nur für sich allein
  24. Und nicht für mich bekümmert sein.
  25. Beschwer die Götter nicht mit Klagen!
  26. Der Vorteil, den sie dir versagen
  27. Und jenem schenken, wird gemein:
  28. Wir dürfen nur gesellig sein.
Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 50-51.