Ein paar Infos und Überlegungen vorab:
- Jeder Text enthält Aussagen, die mehr oder weniger deutlich hervortreten.
- Während bei Sachtexten die Aussagen des meistens mit dem übereinstimmen, was auch der Autor sagen wollte (außer, er lügt zum Beispiel),
- ist das bei literarischen Texten, also zum Beispiel einem Gedicht von Goethe, völlig anders. Da nimmt man den Text erst mal für sich. Denn das ist das Wesen der Literatur, dass man da mal etwas erfinden und damit ein bisschen rumspielen kann.
- Im Folgenden zeigen wir am Beispiel des Gedichtes „Prometheus“ von Goethe, wie man die Aussagen aus dem Text herausarbeiten kann.
- Anschließend werden wir dann auf die „Deutung“ eingehen, das ist für uns identisch mit Interpretation. Aber dazu später mehr.
Wir sind noch bei der Arbeit 🙂
Jetzt erst mal der Text des Gedichtes;
Johann Wolfgang Goethe [das „von“ kam erst später ;-)]
Prometheus
[Strophe 1]
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
(05) An Eichen dich und Bergeshöhn!
Musst mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
- Das lyrische Ich, der im Titel angesprochene griechische Sagenheld Prometheus, ist hier ziemlich auf Streit aus, wenn er Zeus, immerhin dem höchsten der griechischen Götter, sagt, er soll den Himmel, also wohl die Welt der Götter auf dem Olymp, zumachen
- und sich nur noch an „Eichen und Bergeshöhn“ vergreifen.
- Hintergrund ist wohl die Vorstellung, dass Zeus zuständig war für die Blitze, die er gerne mal als Waffe einsetzte.
- Ziemlich beleidigend ist natürlich der Vergleich mit „Knaben“, also unerwachsenen Menschen.
- Nach der Abwehr nach oben kommt ab Zeile 06 der Schutz nach unten.
- Prometheus sagt „meine Erde“ und will damit noch mal deutlich machen, dass sich Zeus da raus halten soll.
- Anschließend führt er einige Dinge auf, die er selbst geschaffen hat, immer mit dem zurückweisenden Hinweis gegenüber Zeus, dass er nicht nur nichts dazu beigetragen hat, sondern dass er das Geschaffene sogar beneiden würde.
- Auswertung in Richtung Bündelung von Signalen bzw. Aussagen:
- Deutlich wird eine geradezu aggressive, ja beleidigende Zurückweisung des Göttervaters, was dessen angenommene Ansprüche angeht.
- Verbunden ist das mit Stolz auf das, was das lyrische Ich, in diesem Falle also Promethus, selbst geleistet hat.
- Es gibt sogar einen ersten Hinweis darauf, dass es hier sogar ein Überlegenheitsgefühl gibt.
[Strophe 2]
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
(05) Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
- Auswertung in Richtung Bündelung von Signalen bzw. Aussagen:
- Der Gedanke der Überlegenheit, verbunden mit wieder einem Stück Beleidigung wird fortgeführt.
- Der Gedanke des Neides wird so weit ausgeführt, dass die Götter eigentlich nichts wären, wenn nicht unreife oder bedürftige Menschen sie noch verehren würden.
[Strophe 3]
Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug
Zur Sonne, als wenn drüber wär
(05) Ein Ohr zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
- In dieser Strophe wird Prometheus persönlich, nimmt also den Kinder-Gedanken auf und bezieht ihn auf sich.
- Er beschreibt in gewisser Weise auch eine „Bettler“-Situation, die ihn aus der Not heraus dazu gebracht hat, sich mit einer „Klage“ an die Götter zu wenden.
- Das wird dann schon im Konjunktiv der Irrealität präsentiert, d.h. hier scheint Erfahrung und damit auch Ernüchterung durch.
- Den Schluss bildet der deutliche Hinweis auf einen entscheidenden Unterschied zwischen den Göttern und ihm: Es geht um das „Herz“ als Instanz des Mitgefühls, das er den Göttern völlig abspricht.
- Dementsprechend war es für P. aus der Rückschau auch falsch, in der Situation des „Bedrängten“ davon auszugehen, dass die Götter sich seiner „erbarmen“ könnten.
- Auswertung in Richtung Bündelung von Signalen bzw. Aussagen:
- Hier ist die Perspektive völlig verändert, weg von der Gegenwart hin zur Vergangenheit, in der P. nach eigenem Bekunden selbst zu den Kindern“ und zu den Bettlern, bei ihm im Sinne von Bedrängten, gehörte.
- Herzvorgehoben wird die Herzlosigkeit der Götter – aus der Sicht der Erfahrung heraus.
[Strophe 4]
Wer half mir wider
Der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
(05) Hast du’s nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden dadroben?
- Nachdem die Not geschildert worden ist, geht es um die Frage, wer denn P. in seiner bedrängten Kindheit geholfen hat.
- Die Antwort ist eindeutig: P. hat es selbst geschafft – und er verweist hier auf sein Herz, was hier wohl für so etwas steht, was man früher „Beherztheit“ genannt hat. Man fasst sich ein Herz, nimmt allen Mut zusammen und wehrt sich bzw. sorgt für sich selbst.
- Den Schluss bildet dann die Klage oder sogar der Zorn darüber, dass man als Kind das eben nicht sich selbst zugesprochen hat, sondern von Göttern, von denen sich das lyrische Ich aus späterer Sicht regelrecht „betrogen“ gefühlt hat.
- Die Götter sind nämlich nur noch die „Schlafenden dadroben“ – sie haben zwar eine höhere Position, aber sie interessieren sich nicht für die Menschen und ihre Nöte.
- Auswertung in Richtung Bündelung von Signalen bzw. Aussagen:
- Nach der Schilderung der Not geht es um die Rettung, die P. sich ganz allein selbst zuschreibt.
- Dazu kommt der wohl peinliche Gedanke, dass er seine Rettung trotzdem den Göttern zugeschrieben hat, was er als Betrug empfindet,
- weil er jetzt zu wissen meint, dass die Götter im Hinblick auf die Nöte der Menschen nur schlafen.
[Strophe 5]
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
- In dieser Strophe kehrt die Anrede-Haltung des Anfangs wieder zurück und damit der direkte Protest,
- P. will von Verehrung nichts wissen und
- nennt zwei Beispiele menschlicher Not, einmal die Linderung wohl eher innerer Schmerzen, wenn von einem „Beladenen“ die Rede ist.
- Zum anderen die „Geängsteten“, also den Menschen, der sich in der Enge sieht, keinen Ausweg weiß, sich vor irgendetwas fürchtet, sogar weint und dessen Tränen eben nicht gestillt werden.
- Auswertung in Richtung Bündelung von Signalen bzw. Aussagen:
Die Strophe zeigt: - wie stark P. jedes Gefühl einer Verpflichtung gegenüber den Göttern zurückweist
- und das auf ihre Untätigkeit zurückführt in Situationen, in denen der Mensch Hilfe oder auch nur Trost braucht.
[Strophe 6]
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und deine?
- Diese Strophe verlässt die Ebene der anklagenden Anrede.
- Sie zeigt starkes Selbstbewusstsein. P. fühlt sich eben nicht mehr als Kind, sondern „zum Manne geschmiedet“, was ja auch das Durchleiden von Feuer und Hammerschlägen bedeutet.
- Statt der Götter wird jetzt „die allmächtige“ Zeit, ergänzt um „das ewige Schicksal“ zu Nothelfern erklärt.
- Gemeint damit dürfte sein, dass P. sich eben verändert hat und sein – wohl als passend empfundenes Schicksal gefunden oder auch angenommen, vor allem aber gestaltet hat.
- Die Schlusszeile macht dann deutlich, wie gleichrangig sich dieser „alter deus“ Prometheus (so wie Gott sein und handeln) fühlt.
- Er sieht die großen Kräfte der Welt als „Herren“ sowohl für sich als auch für die Götter. Die sind hier plötzlich für P. nicht mehr ewig, übergeordnet, sondern gleichrangig.
- Anmerkung: Hier kann man sich fragen, ob das nicht eigentlich bedeutet, dass die Götter für diesen Prometheus Goethes eigentlich gar nicht mehr als ewige oder gar allmächtige Wesen existieren.
- Auswertung in Richtung Bündelung von Signalen bzw. Aussagen:
Die Strophe zeigt: - ein starkes Bewusstsein für die Zeit und die damit verbundene Möglichkeit zu reifen und sich positiv zu entwickeln, vor allem aber sich auf seine eigene Kraft zu besinnen und sein Leben entsprechend zu gestalten.
- Dazu kommt das Bewusstsein, dass das Schicksal herrscht – und damit ist sicher nicht der Zufall gemeint, der einen ja auch schwer zu Boden schleudern oder sogar vernichten kann, sondern das Schicksal, ganz gleich, wie es aussieht, in die eigenen Hände zu nehmen und das Beste draus zu machen.
[Strophe 7]
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgen-
Blütenträume reiften?
- Erstaunlicherweise beschäftigt sich hier P. doch noch mal mit seinem Gegner, was zeigt, dass der Kampf um eine Veränderung seiner Einstellung noch nicht abgeschlossen ist.
- Er versetzt sich in die Lage des Göttervaters und fragt ihn, welche falschen Vorstellungen er von ihm gehabt hat.
- Verbunden ist das mit einer klaren Selbsterkenntnis, dass es eben „Knabenmorgen-Blütenträume“ gibt, also träumerische Hoffnungen eines jungen Menschen, die wie Blüten eben dann auch verwelken angesichts der Wirklichkeit.
- Entschieden abgelehnt wird aber eine falsche Konsequenz, die man daraus ziehen könnte. Das „Leben hassen“ kommt für P. nicht in Frage, und auch nicht das Fliehen in „Wüsten“ als Orten der Einsamkeit und Zurückgezogenheit.
- Auswertung in Richtung Bündelung von Signalen bzw. Aussagen:
Die Strophe zeigt: - wie sehr P. noch mit alten Vorstellungen kämpft, auch wenn er sie überwunden hat.
- Deutlich wird aus der Rückschau die Einsicht, dass zwar viele Hoffnungen und Träume unrealistisch waren,
- dass daraus aber keine Ablehnung des Lebens und damit der Entwicklung und letztlich des Schicksals folgt.
[Strophe 8]
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Geniessen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.
- Es folgt ein gigantisches Schlussbild, das eng mit der Sage um Prometheus verbunden ist.
- Wie dort so ist P. auch in diesem Gedicht ein wirklicher „alter deus“ (auch ein Gott),
- der nicht nur selbst sein Schicksal gemeistert hat,
- sondern die ihm anvertrauten Menschen zur gleichen Einsicht und Autonomie führen will.
- Gefüllt wird das Schlussbild durch das, was menschliches Leben ausmacht, nämlich „leiden, weinen, / Genießen und zu freuen sich“ – also das Durchleben all der Situationen und Gefühle, die zu einem vollen Menschenleben eben gehören.
- Am Ende kommt dann eine Art Ringschluss, die das noch mal aufnimmt, was am Anfang entwickelt worden ist, nämlich die Nicht-Achtung der Götter vor dem Hintergrund der glücklichen Konzentration auf sich selbst.
- Anmerkung: Das kann durchaus kritisch gesehen werden, denn kein Mensch muss Kind bleiben und damit abhängig. Aber Bettler und Bedrängte wird es immer geben – und wer hilft denen?
- Dazu kommen extreme Situationen, bei denen Menschen sich besser fühlen, wenn sie sich von „guten Mächten treu und still umgeben“ fühlen – unabhängig von deren Realität – einfach weil sie sich selbst nicht (mehr) helfen können.
https://de.wikipedia.org/wiki/Von_guten_M%C3%A4chten_treu_und_still_umgeben - Damit ist man aber schon im Bereich der Interpretation, weil man es mit etwas vergleicht, was über das Gedicht hinausgeht.
Vergleich „Prometheus“ – „Werther“
Zum Vergleich könnte man übrigens gut Goethes „Werther“ heranziehen.
Dort gibt es gewissermaßen die friedlichere, harmonischere Variante des Verhältnisses der „Stürmer und Dränger“ zum Göttlichen:
https://schnell-durchblicken.de/vergleich-gottesvorstellungen-goethe-prometheus-werther
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Themenseite – Sturm und Drang – endlich Durchblick
https://textaussage.de/endlich-durchblick-literaturepoche-sturm-und-drang
— - „Sturm und Drang“ – Sammlung interessanter Gedichte (nach Autoren)
vor allem im Hinblick auf Klassenarbeiten und Klausuren interessant:
https://textaussage.de/sammlung-gedichte-des-sturm-und-drang
— - Gedichte des „Sturm und Drang“ – nach Themen geordnet
https://schnell-durchblicken.de/gedichte-des-sturm-und-drang-nach-themen-geordnet
—
- Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos