Helmut Heißenbüttel, „Ein Zimmer in meiner Wohnung“ – eine Anlehnung an Kafka? (Mat742)

Helmut Heißenbüttel – Vergleich mit Kafka?

Die Geschichte haben wir hier gefunden.

  1. Insgesamt handelt es sich ganz offensichtlich um einen fiktionalen Text, auch wenn in Zeile 41 mal kurz behauptet wird, dass es ein Bericht sei. Aber die Geschichte ist so unrealistisch und mit Gedankenspielereien gespickt, dass man sie nicht zu den Sachtexten rechnen kann.
  2. Schon der Anfang läuft voll im Kafka-Stil, wenn man viele von dessen Geschichten gelesen hat. Typisch für diesen Kafka-Stil ist die Irritation des Ich-Erzählers gleich am Anfang – er fällt gewissermaßen aus der Normalität des Lebens heraus.

    • Zur Irritation gehören auch die vielfältigen Überlegungen, was sein könnte (7).
    • Auch die ständige Infragestellung dessen was eben gesehen und gesagt wurde, ist typisch für Kafka (11).
    • Ab Zeile 15 dann wieder die Fragen und das Sich-in-Frage-Stellen.
    • Das Zögern in Zeile 19 erinnert stark an die Erzählung „Heimkehr“ bei Kafka.
  3. Über Kafka hinaus geht sicher dann die Stimme, die zum Ich-Erzähler spricht und die doch seine eigene ist. Solche Art von Einblicken ins Gespenstische hatte Kafka nicht nötig, dem reichte die äußere Realität. Man denke etwa an „Ein Schlag ans Hoftor.“ (Der Schluss der Heißenbüttel-Geschichte erinnert übrigens auch an diese Geschichte!)
  4. Ab Zeile 30 wird es dann ärgerlich für den Leser, denn er wird da wohl ganz bewusst mit Teil-Informationen abgespeist, die letztlich den Eindruck erwecken, hier versuche es jemand philosophisch, ohne wirklich zu wissen, um was es eigentlich geht.
    • Die ganze Passage von Zeile 30-34 kommt einem seltsam etikettenhaft, inhaltsleer vor. Vielleicht wollte der doch ziemlich berühmte Schriftsteller hier jemanden bei ersten Schreibversuchen imitieren, der dann vom Leiter der Schreibwerkstatt zu hören bekommt: „Also ein bisschen Futter musst du dem Leser schon geben, nur leere Schubladen mit Etiketten reichen nicht.“
    • Auf jeden Fall ist diese Gedankenwelt sehr weit von Kafkas präziser Situationsanalyse entfernt.
  5. So, nachdem wir genau das getan haben, was Heißenbüttel selbst als „Ärger“ bezeichnet, schauen wir uns mal die Abfolge der Gedanken genauer an:
    • „Seit ich diese Stimme höre, weiß ich, daß ich wie einer bin, der dasselbe eingehandelt hat, was er verkauft hat,
      • Wir verstehen das so, dass da jemand versucht hat, etwas loszuwerden und damit auch Geld zu verdienen – und am Ende das Gleiche wieder in der Hand hat, also kein bisschen weitergekommen ist. Ein ganz interessanter Gedanke.
        und der nun mit nichts als dieser Ware herauszufinden versucht, was es damit auf sich hat.“
      • Hier hört für den gemeinen Leser der erkennbare Sinn auf, denn was ist „damit“ – bezieht es sich auf das seltsame Phänomen, dass man immer das zurückkauft, was man verkauft hat? Das wäre sicher auch ein Vorgang, der Kafka in seiner Beschreibung vergeblicher Bemühungen gefallen würde. Ein bisschen erinnert es an Sisyphos.
    • „Der nicht weiß, ob er behalten will, was er nicht weggeben kann.“
      • Das kann man natürlich tiefenpsychologisch so deuten, dass man etwas loswerden will, aber so nicht loswerden kann. Vielleicht kann da nur ein Therapeut helfen.
    • “ Der immer noch glaubt, Morgen wird widerlegen, was Heute bewiesen hat.“
      • Das kann man als Erkenntnis-Fatalismus verstehen. So wie man etwas nicht los wird, das man loswerden will, so kommt man auch zu keiner Erkenntnis, die nicht am nächsten Tag wieder erledigt ist. Also eine deutliche Parallele zu dem vergeblichen Verkauf.
    • „Der an keinen Beweis glaubt, es sei denn im Ärger.“

      • Das wäre dann eine Variante des eben Gesagten: Nur im Ärger, also in einer Gefühlsaufwallung, glaubt man etwas bewiesen. Das kennt man ja: Man ärgert sich über etwas – und dann merkt man, dass man überreagiert oder sogar falsch reagiert war, die Wahrheit eine ganz andere war.
    • „Der vielleicht schon zu verübeln beginnt, was zu finden doch alles war. „

      • Hier wird es schwieriger, aber es ist wohl auch eine Variante des eben Gesagten: Man hat einiges gefunden, aber das gefällt einem kurz darauf nicht – eine Art „Odium Vitae“, Lebensüberdruss, wenn nicht sogar Hass auf das, was das Leben präsentiert.
      • Alles in allem wird deutlich, dass hier jemand in einer Art negativem Kreislauf steckt, auch nicht das Gefühl hat, zu neuen Erkenntnissen vorzustoßen – und wenn das doch mal gelingt, ist das, was herauskommt, nicht erfreulich.
        Auf jeden Fall liegt hier eine sehr negative Sicht des Lebens und der Situation des Menschen im Leben vor.
      • Damit liegt die Aussage der Passage und letztlich dann auch der ganzen Kurzgeschichte durchaus auf der Linie Kafkas, auch wenn der einen solchen Einblick in das Innenleben seiner Figuren wohl eher nicht gewährt hätte. Bei dem kommen die Rückschläge und Tiefschläge eher von außen.
  6. Auch die Spiegel-Episode bringt nicht viel, außer dass sie Ermüdung und Alterung zeigt. Das passt aber natürlich zu dem, was vorher entwickelt wurde – allerdings würde Kafka sich auch in seinen Geschichten kaum mit einem Blick von außen auf seine Figuren beschäftigen. Das ist wohl eine über ihn hinausgehende Weiterentwicklung menschlichen Elends.
  7. Die Schlusspassage liest sich dann wie eine lang geratene Parodie auf den Schluss von Kafkas schon erwähnter Geschichte „Der Schlag ans Hoftor“. Von der Richtung her entspricht sie allerdings vielen Geschichten des Prager Autors, in denen das Ich am Ende in hoffnungslosem Fatalismus verharrt.
  8. Der Nachsatz verändert dann die Perspektive: Jetzt hat man plötzlich einen Er-Erzähler, der offensichtlich sehr viel näher an der Wirklichkeit ist. Damit soll wohl die Idee im Leser entstehen, dass der Ich-Erzähler das erlebt hat, was er am Schluss beschreibt, und dann überlegt, was steckt dahinter. Dabei entsteht dann der große Teil der Geschichte – als Versuch, den unbekannten Fall hinter dem vorgefundenen Fall zumindest in der Fantasie zu klären.
  9.  Insgesamt eine Geschichte, die – wenn unsere Interpretation des Schlusses trägt – ein schönes Beispiel ist für das Spiel der Fantasie angesichts der sich nur knapp präsentierenden Ungeheuerlichkeiten der Wirklichkeit.
    Hierbei scheint wohl eine besondere Eigenart des Heißenbüttelschen Schaffens durch, wie es im Wikipedia-Artikel angedeutet wird:
    „Helmut Heißenbüttel unterscheidet zwischen erfundenem und vorgefundenem Material. Er plädiert für eine Literatur des Zitats.“
    Genau das finden wir in dieser Geschichte vor: Da ist etwas, was in der Realität vorgefallen sein könnte, und daraus wird etwas Kreatives. Das erste ist das „Vorgefundene“ und das zweite ist das daraus Entwickelte. Es ist nicht völlig erfunden, sondern aus einem Zitat heraus entwickelt.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Heißenbüttel
  10. Ansonsten wirft die Geschichte viele Fragen auf und wirkt wie eine 90-%-Nachahmung von Kafkas Erzählstil und -haltung, wobei dann gerade die Abweichungen interessant sind.
  11. So bleibt man gerne beim Original. Kafkas Geschichten sind im Verhältnis zu diesem Text von einer atemberaubenden Geradlinigkeit. Bei Heißenbüttel hat man den Eindruck, dass ein bisschen herumgespielt werden sollte mit Einfällen und Gedanken – aber auch das ist natürlich Literatur – und es lohnt sich schon, der Frage nachzugehen, ob Heißenbüttel nicht in dieser Geschichte an einigen Stellen zeigt, was Kafka gerade nicht gemacht hat – vor allem diese Selbstbespiegelung.
  12. Unabhängig davon hat Heißenbüttels Geschichte wieder die Lust erweckt, sich in die Original-Welt Kafkas zu versenken. In seinen Geschichten erfährt man sehr viel mehr (Nachvollziehbares) über die Situation des Menschen in einer absonderlichen Welt.

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