Übung zum schnellen Verständnis von erzählenden Texten: Ödön von Horvath, „Geschichte einer kleinen Liebe“
Hier unsere Bearbeitung des Textes, Teil 1
(weiter unten auch als PDF-Datei zum Download)
Der Text mit Markierungen
Geschichte einer kleinen Liebe
Es ist alles beim alten geblieben, nichts scheint sich verändert zu haben. Weder das Moor noch das Ackerland, weder die Tannen dort auf den Hügeln noch der See. Nichts. Nur, dass der Sommer vorbei. Ende Oktober. Und bereits spät am Nachmittag.
Auch wir zwei, du und ich. Dein helles Sommerkleidchen strahlt in der Sonne fröhlich und übermütig, als hättest du nichts darunter an. Die Saat wogt, die Erde atmet. Und schwül wars, erinnerst du dich? Die Luft summte, wie ein Heer unsichtbarer Insekten. Im Westen drohte ein Wetter und wir weit vom Dorfe auf schmalen Steig, quer durch das Korn, du vor mir – – Doch, was geht das Euch an?! Jawohl, Euch, liebe Leser! Warum soll ich das erzählen? Tut doch nicht so! Wie könnte es Euch denn interessieren, ob zwei Menschen im Kornfeld verschwanden! Und dann gehts Euch auch gar nichts an! Ihr habt andere Sorgen, als Euch um fremde Liebe – und dann war es ja überhaupt keine Liebe! Der Tatbestand war einfach der, dass ich jene junge Frau begehrte, besitzen wollte. Irgendwelche „seelische“ Bande habe ich dabei weiß Gott nicht verspürt! Und sie? Nun, sie scheint so etwas, wie Vertrauen zu mir gefasst zu haben. Sie erzählte mir viele Geschichten, bunte und graue, aus Büro, Kino und Kindheit, und was es eben dergleichen in jedem Leben noch gibt. Aber all das langweilte mich und ich habe des öfteren gewünscht, sie wäre taubstumm. Ich war ein verrohter Bursche, eitel auf schurkische Leere.
Einmal blieb sie ruckartig stehen:
„Du«, und ihre Stimme klang scheu und verwundet. „Warum lässt du mich denn nicht in Ruh? Du liebst mich doch nicht, und es gibt ja so viele schönere Frauen.“
„Du gefällst mir eben“, antwortete ich und meine Gemeinheit gefiel mir überallemaßen. Wie gerne hätte ich diese Worte noch einigemale wiederholt!
Sie senkte das Haupt. Ich tat gelangweilt, kniff ein Auge etwas zu und betrachtete die Form ihres Kopfes. Ihre Haare waren braun, ein ganz gewöhnliches Braun. Sie trug es in die Stirne gekämmt, so wie sie es den berühmten Weibern abgeguckt hatte, die für Friseure Reklame trommeln. Ja, freilich gibt es Frauen, die bedeutend schöneres Haar haben und auch sonst – Aber ach was! Es ist doch immer dasselbe! Ob das Haar dunkler oder heller, Stirn frei oder nicht –
„Du bist ein armer Teufel“, sagte sie plötzlich wie zu sich selbst. Sah mich groß an und gab mir einen leisen Kuss. Und ging. Die Schultern etwas hochgezogen, das Kleid verknüllt –
Ich lief ihr nach, so zehn Schritte, und hielt.
Machte kehrt und sah mich nicht mehr um.
Zehn Schritte lang lebte unsere Liebe, flammte auf, um sogleich wieder zu verlöschen. Es war keine Liebe bis über das Grab, wie etwa Romeo und Julia. Nur zehn Schritte. Aber in jenem Augenblick leuchtete die kleine Liebe, innig und geläutert, in märchenhafter Pracht.
Die Erläuterung und Auswertung des Textes
Intentionalität: Insgesamt zeigt die Geschichte
- einen erstaunlichen Wandel von einem egoistischen Frauenverführer, der vor allem in seinen Gedanken, aber wohl auch in seinem gesamten Verhalten meilenweit von so etwas wie echter Liebe entfernt ist, zu einem zumindest Menschen mit einer späten Einsicht, der auch vor starker Selbstkritik nicht zurückscheut,
- eine Wandlung, die sich sehr mühsam, stellenweise verdrängend, im ersten Teil der Geschichte entwickelt – zumindest in der klaren Formulierung,
- eine erstaunliche Offenheit in der rückblickenden Selbstdarstellung
- eine erstaunlich starke Frau, die einen klaren Blick auf die Beziehung hat und sie irgendwann auch dem schmerzhaften Punkt der Klärung zuführt, verbunden mit der Fähigkeit zu einem starken Umgang mit dem Ergebnis,
- am Ende eine fast schon egomanische Überhöhung des Geschehens in Richtung einer angeblichen innigen und geläuterten Liebe bis ins Märchenhafte hinein. In Wirklichkeit zeigt die Geschichte hier nur den gigantischen Gegensatz zwischen der damaligen Erbärmlichkeit des Erzählers und einer Frau, die im entscheidenden Momente – ähnlich und doch auch anders als die Marquise von O…. in Kleists gleichnamiger Novelle weniger mit sich sich selbst als vielmehr mit ihrem Gegenüber „bekannt“ wird und dabei ihre volle Würde als Mensch (zurück) gewinnt.
Was die künstlerischen Mittel angeht, so fällt vor allem auf:
- Der lange Anlauf im ersten Teil der Geschichte, bis der Erzähler endlich zur Sache kommt – auf dem Umweg über die Natur,
- die Schwierigkeiten, die der Erzähler auch dann noch hat, indem er seine eigenen Probleme auf die Leser versucht abzuladen,
- die geschickten Überleitungen („wir sehen uns alle wieder!“ – „Auch wir zwei, du und ich“, „um fremde Liebe – und dann war es ja überhaupt keine Liebe“
- das Bemühen um fast schon juristische Sachlichkeit in der Wortwahl („Tatbestand“, „begehrte“, „besitzen wollte“)
- der Gegensatz zwischen dem noch einigermaßen harmlosen „Du gefällst mir eben“ und dem beschämenden Blick auf die angebliche Gewöhnlichkeit dieser Frau,
- die dann in einem plötzlichen Wechsel das Steuer des Gesprächs und der Beziehung übernimmt
- und am Ende die völlig überzogene Sicht auf den Moment der Trennung, die nur verständlich ist als eine abschließende Rückkehr zur Verdrängung , bei der der Erzähler sich zwar seine damalige Erbärmlichkeit eingestanden hat, das Ende der Gemeinsamkeit aber doch noch als zumindest kurzen Moment liebevoller Gemeinsamkeit verkaufen will – wofür es im Text keine ausreichende Grundlage gibt.
- Vielleicht ist der Titel ja auch in dem Sinne zu verstehen, dass sich hier eine späte Einschätzung von der früheren Wirklichkeit abgelöst hat, sich hier jemand wirklich eine „Erzählung“ über einen Abschnitt seines Lebens verschafft, mit dem er gut leben kann.
Kurzgeschichtencharakter
- Ein direkter Einstieg ist auf jeden Fall geben.
- Auch geht es um den „Ausriss“ aus einem Leben,
- der außerdem einen bedeutsamen Wendepunkt enthält.
- Der Schluss ist allerdings nur ansatzweise offen, weil diese „kleine Liebe“ auf jeden Fall abgeschlossen sein dürfte. Vielleicht aber auch nicht – denn dieser Erzähler ist ja in seinem Reifeprozess ganz offensichtlich noch nicht am Ziel angekommen. Vielleicht braucht er diese oder auch eine andere Frau, um endlich zu begreifen, was wirkliche Liebe ist.
Kreative Anregung
Reizvoll wäre, diese „Geschichte einer kleinen Liebe“ aus der Sicht der Frau erzählen zu lassen.
- Zum Beispiel könnte die Frau den Mann nach einiger Zeit wieder mal irgendwo treffen.
- Er würde dann gleich auf sie losstürzen und sie im vollen Monolog gewissermaßen überrennen – nach dem Motto: „O, sorry, damals, was war ich für ein Idiot, aber ich habe gelernt, die 10 Schritte von dir weg waren der schönste Moment unserer Liebe.“
- Man kann sich vorstellen, wie sie darauf reagiert.
- Anschließend müsste es einen langsamen und sicher mühevollen Prozess der Verständigung darüber geben, was damals wirklich gelaufen ist.
- Dann muss der Mann vielleicht noch mal 10 Schritte zurück, wenn auch diesmal mit Absicht, um die Frau überhaupt zu sehen als das, was sie ist – nicht nur die Kleinigkeiten, die er ihr in Gedanken beim ersten Mal vorgehalten hat.
- Vielleicht fragt er sie dann auch überhaupt mal, wie es ihr seitdem gegangen ist.
- Am Ende könnte sie vielleicht in bester „Sommerhaus später“-Manier, aber vor einem ganz anderen Hintergrund und mit einer anderen Perspektive sagen: „Vielleicht“.
Vergleich mit „Sommerhaus später“ von Judith Herrmann
- Auch dort geht etwas schief, passen die Vorstellungen des einen Partners nicht mit denen des anderen zusammen.
- Auch dort gibt es Kommunikationsschwierigkeiten – es wird mehr gedacht als gesprochen.
- Aber dort gibt es keinen ausgesprochenen Moment der Klarheit, sondern Stein beendet die Beziehung mit der Vernichtung des Lebenstraums, den er mit der Ich-Erzählerin gemeinsam verwirklichen wollte.
- Statt der zum Teil fast bösartigen Gedanken des Ich-Erzählers in der Geschichte von Horvath äußert sich die Distanz der Ich-Erzählerin und Stein bei Judith Hermann eher in Gleichgültigkeit.
- Wichtig ist, dass man in beiden Geschichten als Leser nur eine Perspektive geboten bekommt – mehr weiß man nicht und kann man auch nicht beurteilen.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
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