Kafka, „Der Prozess“ – Interpretation des Schlusses

Worum es hier geht:

Im Folgenden geht es um die Interpretation des Schlusses des Schlusses von Kafkas Roman „Der Prozess“:

Die Gesamtübersicht über den Inhalt, wichtige Textstellen und Interpretationsansätze findet sich hier:

https://www.schnell-durchblicken2.de/kafka-prozess-inhalt-zitate-detailinterpretation

Der Originaltext wird immer in Kursivschrift präsentiert, davon abgehoben finden sich erläuternde Anmerkungen.

  1. 206: Ende
  • „Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages“ wird K. dann wieder von zwei Männern einfach abgeholt.
  • Interessant ist, dass er anscheinend darauf gewartet hat:
    • „Ohne dass ihm der Besuch angekündigt gewesen wäre, saß K., gleichfalls schwarz angezogen, in einem Sessel in der Nähe der Türe und zog langsam neue, scharf sich über die Finger spannende Handschuhe an,
    • in der Haltung, wie man Gäste erwartet.
    • Er stand gleich auf und sah die Herren neugierig an. ‚Sie sind also für mich bestimmt?‘ fragte er. Die Herren nickten, einer zeigte mit dem Zylinderhut in der Hand auf den anderen.
  • Interessant und nicht weiter ausgeführt ist dann aber auch ein Restmoment an Überraschung:
    • gestand sich ein, dass er einen anderen Besuch erwartet hatte.“
  • Zunächst kommt der alte Hochmut noch einmal durch:“
    • „Alte, untergeordnete Schauspieler schickt man um mich“, sagte sich K. und sah sich um, um sich nochmals davon zu überzeugen. „Man sucht auf billige Weise mit mir fertig zu werden.“
    • wendete sich plötzlich ihnen zu und fragte: „An welchem Theater spielen Sie?“ „Theater?“ fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den anderen um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem widerspenstigsten Organismus kämpft.
    • „Sie sind nicht darauf vorbereitet, gefragt zu werden“, sagte sich K. und ging seinen Hut holen.
  • Schon bald wird deutlich, dass es sich hier um keinen Spaß handelt:
    • Schon auf der Treppe wollten sich die Herren in K. einhängen, aber K. sagte:
    • „Erst auf der Gasse, ich bin nicht krank.“
    • Gleich aber vor dem Tor hängten sie sich in ihn in einer Weise ein, wie K. noch niemals mit einem Menschen gegangen war. Sie hielten die Schultern eng hinter den seinen, knickten die Arme nicht ein, sondern benützten sie, um K.s Arme in ihrer ganzen Länge zu umschlingen, unten erfaßten sie K.s Hände mit einem schulmäßigen, eingeübten, unwiderstehlichen Griff.
    • ging straff gestreckt zwischen ihnen, sie bildeten jetzt alle drei eine solche Einheit, dass, wenn man einen von ihnen zerschlagen hätte, alle zerschlagen gewesen wären.
    • Es war eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann.
  • Etwas später versucht K. es mit Widerstand:
    • „Ich gehe nicht weiter“«, sagte K. versuchsweise.
    • Darauf brauchten die Herren nicht zu antworten, es genügte, dass sie den Griff nicht lockerten und K. von der Stelle wegzuheben versuchten,
    • aber K. widerstand. „Ich werde nicht mehr viel Kraft brauchen, ich werde jetzt alle anwenden“, dachte er.
    • Ihm fielen die Fliegen ein, die mit zerreißenden Beinchen von der Leimrute wegstreben. „Die Herren werden schwere Arbeit haben.“
  • Deutlich wird hier, dass K. zwar ein bisschen rumprobiert, aber letztlich nicht wirklich versuchen will zu fliehen, wie vor allem der Vergleich mit den Fliegen zeigt, aber auch der Hinweis, dass er, was seine Kraft angeht, „jetzt alle anwenden“, also verbrauchen kann, da er in Zukunft „nicht mehr viel Kraft brauchen“ werde.
  • Wie sehr K. sich aufgegeben hat, wird auch an dieser Textstelle deutlich. Er hat plötzlich den Eindruck, Fräulein Bürstner zu sehen:
    • Es war nicht ganz sicher, ob sie es war, die Ähnlichkeit war freilich groß. Aber K. lag auch nichts daran, ob es bestimmt Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm gleich zum Bewusstsein. Es war nichts Heldenhaftes, wenn er widerstand, wenn er jetzt den Herren Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt in der Abwehr noch den letzten Schein des Lebens zu genießen versuchte.
    • Er setzte sich in Gang, und von der Freude, die er dadurch den Herren machte, ging noch etwas auf ihm selbst über.
    • Sie duldeten es jetzt, dass er die Wegrichtung bestimmte, und er bestimmte sie nach dem Weg, den das Fräulein vor ihnen nahm, nicht etwa, weil er sie einholen, nicht etwa, weil er sie möglichst lange sehen wollte, sondern nur deshalb, um die Mahnung, die sie für ihn bedeutete, nicht zu vergessen.
  • Anmerkung:
    Hier wäre genauer zu untersuchen, inwieweit Fräulein Bürstner eine Mahnung für ihn darstellt. Dazu müsste man ihr Zusammentreffen am Anfang noch einmal genauer untersuchen.
    • „Das einzige, was ich jetzt tun kann“, sagte er sich, und das Gleichmaß seiner Schritte und der Schritte der beiden anderen bestätigte seine Gedanken, „das einzige, was ich jetzt tun kann, ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand behalten.
    • Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig.
  • Anmerkung:
    Hier wird Selbstkritik deutlich, die an ein Schuldeingeständnis grenzt. Auch das müsste genauer geprüft werden. Man merkt deutlich, wie vom Ende-Kapitel wichtige Perspektiven auf den gesamten Roman deutlich werden. Dabei sollte man die beiden folgenden Zitat-Elemente mit einbeziehen.

    • Soll ich nun zeigen, dass nicht einmal der einjährige Prozeß mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen? Soll man mir nach sagen dürfen, dass ich am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will? Ich will nicht, dass man das sagt.
    • Ich bin dafür dankbar, dass man mir auf diesem Weg diese halbstummen, verständnislosen Herren mitgegeben hat und dass man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen.“
  • Im weiteren Verlauf lockern die Begleiter ihren festen Griff, aber auch das nutzt K. nicht, auch nicht einen Polizisten, dem die drei Leute verdächtig vorkommen.
  • Als sie dann einen kleinen Steinbruch erreichen, wird es aber ernst. K. muss zunächst die Oberbekleidung ablegen, einer der Männer führt ihn aber ein bisschen herum, damit er sich nicht verkühlt – lächerlich angesichts dessen, was K. erwartet.
  • K. wird dann immer mehr zur Hinrichtung vorbereitet, er versucht mitzuspielen, aber seine Haltung „blieb eine sehr gezwungene und unglaubwürdige“. Das kann man auf einen Rest an Lebenswillen beziehen, es kann aber auch eine Infragestellung des im Hintergrund lauernden Urteils sein, das K. ja zwischenzeitlich für sich irgendwie akzeptiert hat.
  • In diesen Zusammenhang gehören auch K.s Gedanken, als der eine der Begleiter dem anderen „über K. hinweg das Messer“ reicht:
    • K. wusste jetzt genau, dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte.“
  • Auch diese Stelle muss man sich genau ansehen:
  • K. sieht eine Art Selbsthinrichtung als seine „Pflicht“ an.
  • Dass er hier versagt, sieht er als Fehler an,
  • schiebt aber die Verantwortung dafür dem zu, „der ihm den Rest der nötigen Kraft versagt hatte“.
  • Ganz offensichtlich schwankt K. hier zwischen Schuld- bzw. Versageneingeständnis und Entschuldigung mit Hinweis auf die Verantwortung anderer.
  • Interessant auch dann K.s Blick zu dem Haus rüber:
    • ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus.
    • Wer war es?
    • Ein Freund?
    • Ein guter Mensch?
    • Einer, der teilnahm?
    • Einer, der helfen wollte?
    • War es ein einzelner?
    • Waren es alle?
    • War noch Hilfe?
    • Gab es Einwände, die man vergessen hatte?“
  • Auch hier wieder die Frage, ist das nur ein letztes Aufbäumen des Lebenswillens – oder aber doch ein Zweifel an Schuld und Gericht?
  • Und dann der Versuch einer harmonisierenden Erklärung:
    • „Gewiß gab es solche [Einwände].
    • Die Logik ist zwar unerschütterlich,
    • aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht.
    • Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte?
    • Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war?
    • Er hob die Hände und spreizte alle Finger.
  • Auch hier muss man genau lesen:
  • Es gibt Einwände,
  • aber die beziehen sich nicht auf Logik,
  • sondern auf den Lebenswillen.
  • Dann folgen zwei Fragen, die sich auf das Wesen des Prozesses beziehen, nämlich seine Sinnlosigkeit – man könnte auch sagen: seinen Willkür-Charakter.
  • Das mit der Logik passt aber überhaupt nicht – weder zu den Schlussfragen noch zu den Erfahrungen, die der Leser mit dem Protagonisten zusammen gemacht hat.
  • Die Frage ist auch, was der Schlussatz bedeutet: Ist das ein Zeichen von Ergebung oder Widerstand?
  • Dann der Schluss, den man ebenfalls sehr aufmerksam lesen muss:
    • Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn,
    • während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte.
    • Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten.
    • „Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.
  • Die letzte Feststellung kann sich grammatisch nur auf K. selbst beziehen, was dann auch zum zweiten Teil des Satzes passen würde.
  • Auch hier muss man genauer untersuchen, wie K. diesen negativen Schlusspunkt seines Angeklagten-Zustandes im Zusammenhang mit positiven Äußerungen zu Schuld und Gericht am Ende sieht. Oder sollte es eine abschließende Selbstdemütigung sein

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