Klausur: Interpretation des Gedichtes „Am Turme“ von Annette von Droste-Hülshoff (Mat6203)


Worum es hier geht:

Klausur zu Annette von Droste-Hülfshoffs Gedicht  „Am Turme“ – mit besonderer Berücksichtigung literaturgeschichtlicher Bezüge (transparente Lösung)
  • Wer ein Gedicht sucht, das nicht eindeutig einer Epoche zuzuordnen ist, sondern ganz unterschiedliche Bezüge aufweist, kann sehr gut auf dieses stark autobiografisch angehauchte Gedicht Annette von Droste-Hülshoffs zurückgreifen.
  • Sehr interessant ist es auch, wenn es die Situation gebildeter Frauen im 19. Jahrhundert geht.
  • Das Material liefert den Text sowie eine ausführliche schülergerechte und damit leicht verständliche Interpretation.
  • Da diese außerdem noch „transparent“ vorgestellt und erläutert wird, ist dieses Material sehr hilf-reich, wenn man das Interpretieren von Gedichten lernen und trainieren will.
  • Noch ein Hinweis am Rande: Sehr schön vergleichen kann man dieses Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff mit einem etwas älteren aus der Zeit der Romantik von Karoline von Günderode: „Der Kuss im Traume“.

    Annette von Droste-Hülshoff

    Am Turme
Strophe 1

Ich steh‘ auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass‘ gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!

Strophe 2

Und drunten seh‘ ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht‘ ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute!

Strophe 3

Und drüben seh‘ ich ein Wimpel wehn
So keck wie ein Standarte,
Seh‘ auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht‘ ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.

Strophe 4

Wär‘ ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär‘ ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!

(1842)

Aufgabenstellung:

Interpretieren Sie das Gedicht unter besonderer Berücksichtigung literaturgeschichtlicher Bezüge!

Worterklärungen:

3 Mänade: wilde Frau im Kult des griechischen Weingottes Dionysos
5 Fant: unreifer, nicht ernstzunehmender junger Mann

Musterlösung: Form des Gedichtes
Das Gedicht von Annette von Droste Hülshoff mit dem Titel „Am Turme“, entstanden 1842, besteht aus vier Strophen mit jeweils acht Zeilen. Das Reimschema ist relativ einfach: Es fol-gen zwei Kreuzreime aufeinander, womit schon eine gewisse Zweiteilung der Strophen gege-ben ist. Schwieriger ist die Frage des Rhythmus zu klären. Man merkt ganz deutlich, dass in diesem Gedicht ein musikalischer Grundton vorhanden ist, häufig erinnert er an einen Daktylus, das merkt man bereits in der ersten Zeile bei den letzten drei Wörtern („Balkone am Turm“: -!–!).
Besonders deutlich ist es dann in der zweiten Zeile: „Umstrichen vom schreienden Stare“ (-!–!–!-).
Anmerkungen zur Beschreibung der Form des Gedichtes
Die Interpretation beginnt mit einer Art Einleitungsformular, in dem zunächst gewissermaßen die Grunddaten des Gedichtes genannt werden: Textgattung, Verfasser, Titel, Entstehungszeit, Strophenaufbau.

Etwas mehr Gedanken muss man sich dann schon bei der Klärung des Reimschemas und des Versmaßes machen. Letzteres macht am meisten Mühe – man könnte es noch sehr viel genauer untersuchen, aber da es recht kompliziert und ungewöhnlich ist, reicht wohl die Feststellung, dass es sich um einen sehr bewegten, musikalischen Rhythmus handelt.

Besonders positiv ist, dass zumindest im Bereich der Grobgliederung der Strophen schon etwas angedeutet wird, was später bei der Inhaltserläuterung von Bedeutung ist.
Einstieg in die Vorstellung des Inhalts

Was den Inhalt des Gedichtes angeht, so beginnt es mit einer Situationsbeschreibung der Sprecherin, die sich zwar noch in einem Gebäude befindet, dort aber an ausgesetzter Stelle und hingegeben an die wilde Natur.

Gut ist hier, dass nicht einfach der Inhalt wiedergegeben wird, sondern er genauer gekenn-zeichnet ist. Der Begriff ist Situationsbeschreibung kann ja häufig verwendet werden bei der Gedichtinterpretation. Recht originell sind die Gedanken zum genauen Ort, an dem sich die Sprecherin befindet. An dieser Stelle hätte noch kurz geklärt werden können, wieso hier bereits von einer Sprecherin die Rede ist – das lyrische Ich ist ja nicht mit der Verfasserin gleichzusetzen – aber spätestens die Zeile 27 macht ganz deutlich, dass hier eine Frau spricht.
Beschreibung des 2. Teils von Strophe 1

Das zweite Quartett (Vierzeiler) der ersten Strophe bringt dann einen neuen Gesichtspunkt ins Spiel: Jetzt geht es nicht mehr um das Verhältnis eines Menschen zu seiner Umgebung, son-dern um die Auseinandersetzung zwischen zwei Lebewesen, die sowohl als Annäherung („kräftig umschlingen“) als auch als Kampf („ringen“) auf Leben und Tod begriffen wird.

Was hinter diesen beiden gegenläufigen Bewegungen steckt, wird nicht genannt. Offensicht-lich ist eine Art Doppelspiel des Lebens gemeint, das einen gewissen erotischen Grundzug enthält.

Wichtig ist in diesen beiden Absätzen, dass nicht nur eine Beschreibung erfolgt, sondern auch die Erklärung einer Lücke gesucht wird, denn es wird ja tatsächlich im Gedicht nicht weiter darauf eingegangen, wer das Gegenüber ist, zu dem die Sprecherin ein solch zwie-spältiges Verhältnis pflegt. Was noch hätte eingebracht werden können, das ist ein näheres Eingehen auf die Beschreibung dieses Gegenübers: Es wird nämlich in einen deutlichen Gegensatz gebracht zur Schlussbeschreibung der Sprecherin selbst: Die Attribute „wild“, „toll“ (im Sinne von „verrückt“) sowie das Nomen „Fant“ mit seiner mitgegebenen Worter-klärung gehen alle in ein und dieselbe Richtung. Es handelt sich um eine direkte Gegenwelt zur bürgerlichen Welt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

 

Anmerkungen zum Beschreibung von Strophe 2 und 3

Ähnlich aufgebaut ist die zweite Strophe: Zunächst wird das Spiel der Wellen am Strand be-schrieben. Die zweite Hälfte der Strophe bringt dann den Versuch der Sprecherin bezie-hungsweise ihren Wunsch, Teil des dort tobenden wilden Lebens zu werden.

Die dritte Strophe erweitert dann noch einmal den Blick. Jetzt geht es um ein Schiff auf dem Meer, von dem anscheinend zunächst nur der „Wimpel“ zu sehen ist, bevor auch der eigentli-che Rumpf in den Blick kommt. Auch hier dominiert in der zweiten Strophenhälfte der Wunsch, selbst mit diesem Schiff etwas zu unternehmen, wobei das Motiv des Kampfes wie-der auftaucht: „im kämpfenden Schiff“ (21).

Dass die zweite und dritte Strophe relativ kurz behandelt werden, lässt sich rechtfertigen, weil sie tatsächlich in gewisser Weise eine Wiederholung des Ansatzes aus der ersten Stro-phe sind.  Man hätte noch auf den „korallenen Wald“ eingehen können und das „Walross“ – beide passen zwar räumlich nicht so recht zusammen, aber das dürfte Annette von Droste-Hülshoff gleichgültig gewesen sein – es geht schließlich nur um recht beliebige Wegmarken der Ferne und des Woanders-Seins. Interessant ist allenfalls noch das Attribut „lustig“ – es passt zu dem zu der Worterklärung des Nomens „Fant“ und deutet ein Leben an, in dem al-les genommen wird, was daherkommt, ohne große Bedenken (dass es für das Walross oder auch für den einen oder anderen Jäger blutig enden kann, wird nicht mitgedacht). Hier schließt keiner Riester-Renten ab – hier geh es um pralles, akutes Leben.
 
Anmerkungen zum Beschreibung von Strophe 4

Die vierte Strophe verlässt die Bahn der ersten drei Strophen. Jetzt wird nicht zunächst eine Situation geschildert, sondern am Anfang steht gleich der zusammenfassende Wunsch, eine Rolle ausüben zu dürfen, die alle Perspektiven bietet. Sie ist für die Zeit der Entstehung des Gedichtes untrennbar mit der Männerwelt verbunden: Nur dort wird gejagt, darf Krieg geführt werden (was hier ganz unbefangen positiv gesehen wird!). Das geht so weit, dass der Spre-cherin das Mann-Sein allein schon reichen würde, ohne dass es direkt mit einer Tätigkeit ver-bunden wäre.
Die letzten vier Zeilen beschreiben dann zwei Grundsituationen der Sprecherin, zum einen das Eingebundensein in eine familiäre und klar geordnete Welt. Zum anderen aber gibt es zumindest die Andeutung eines heimlichen Ausbruchs, wenn auch nur für kurze Zeit und in der Fantasie, ausgedrückt im Bild des frei flatternden Haares.

Man kann dieses Gedicht tatsächlich nicht interpretieren, ohne auf die Sonderstellung der letzten Strophe einzugehen: Zu deutlich ist allein schon der Verzicht auf das ständige „o“ zu Beginn jeweils des zweiten Quartetts.  Bisher wird auch alles im Indikativ dargestellt, jetzt kommt erstmals der Wunschmodus, allerdings in der Form des Irrealis. Positiv ist der kleine erläuternde Einschub zum „Soldaten“, der wiederum zu dem scheinbar vordergrün-dig „Lebenslustigen“ dieses Gedichtes passt, das auch Gefahr und Tod einschließt.

Gut wird die Doppelexistenz der Sprecherin am Ende herausgearbeitet – wieder dargestellt im Indikativ.

Anmerkungen zum Beschreibung der Aussagen (Intentionalität)

Ganz deutlich ist die Zielrichtung des Gedichtes, es zeigt einen Menschen, genauer: eine Frau, die sich an den Rand dessen begibt, was ihr überhaupt möglich ist, um aus ihrer eingeschränkten Welt herauszukommen und zumindest ansatzweise etwas vom Abenteuer und der Wildheit des Lebens mitzubekommen.

Bezeichnend ist die Überschrift, die gleichzeitig eine symbolische Bedeutung hat. Der Turm und dort außerdem auch noch der Balkon ist, wie oben schon angedeutet, der am weitesten ausgesetzte Ort, den man in der geordneten Welt der Zivilisation überhaupt erreichen kann. Zumindest dort kann man etwas von der fehlenden Luft des Lebens und der Abenteuer schnuppern und seiner Fantasie freien Lauf lassen, auch wenn am Ende wieder die Realität Oberhand gewinnt.

Nach der fortlaufenden Erläuterung des Inhalts wird die „Zielrichtung“ des Gedichtes zu-sammenfassend geschrieben, die Intention, d.h. das, worauf alle Signale des Textes zustreben. Sehr positiv ist, dass hier der Titel des Gedichtes noch einmal angesprochen und einbezogen wird.
Anmerkungen zum Beschreibung der sprachlichen u.ä. Mittel

Damit sind wir bereits bei den künstlerischen Mitteln:

  1. Es dominieren Vergleiche, (Z 3: „gleich einer Mänade“, Z10: „wie spielende Doggen“, Z 18: „wie eine Standarte“, Z 24: „wie eine Seemöve“.
  2. Daneben gibt es eine sehr lebendige Beschreibung der Natur, zum Teil personalisiert: Z5: „O wilder Geselle, o toller Fant“, Z10/11: „wie spielende Doggen, die Wel-len/Sich tummeln ring mit Geklaff und Gezisch“ – hier spielt zudem Lautmalerei eine Rolle.
  3. Wichtig ist auch der Aufbau der Strophen, die jeweils in der Mitte geteilt sind und bei den ersten drei Strophen zunächst immer eine Situation schildern und dann den dazugehörigen Wunsch bringen.
  4. Auch in der vierten Strophe gibt es die Zweiteilung, nur dass hier der Wunsch am Anfang steht und am Ende die Einordnung in die behütete Welt mit nur kleinen Ausbruchmöglichkeiten folgt.
  5. Fast hat man den Eindruck, dass die letzte Strophe in gewisser Weise schon den Einstieg in die Rückkehr ins Haus, in die behütete Welt deutlich machen soll, weil dort die Reihenfolge von Realität und Wunsch umgedreht wird.
Was die künstlerischen Mittel des Gedichtes angeht, werden vor allem die Bilder und die Zweiteilung hervorgehoben. Am Rande wird noch Lautmalerei erwähnt. Hier hätte man noch auf den Modus eingehen können, der zu Beginn der vierten Strophe aus dem vorherr-schenden Indikativ kurzzeitig in den Irrealis wechselt. Was nicht ausdrücklich erwähnt wird, aber indirekt einbezogen worden ist, das sind die Ausrufe jeweils zu Beginn des zweiten Quartetts in den ersten drei Strophen.
Anmerkungen zur Einordnung in  die Literaturgeschichte

Das Gedicht passt gut in die Zeit der Romantik, das beginnt schon mit der Sehnsucht, die es ausdrückt, dem Versuch der Flucht aus einer beschränkten und engen bürgerlichen Welt. Ro-mantisch ist sicherlich auch, dass die Sprecherin am liebsten aufgehen möchte in der Natur und sich ganz dem Abenteuer hingeben will.
Das Gedicht passt aber auch gut in die Zeit des Biedermeier, weil alles, was nach außen drängt, letztlich doch zurückgebogen wird in die bestehende Welt. Es wird geträumt von Wei-te und Welt, aber die Sprecherin muss „sitzen so fein und klar,/Gleich einem artigen Kinde“. Die letzten zwei Zeilen drücken im Gedicht selbst aus, was das Gedicht insgesamt tut. Auch Annette von Droste-Hülshoff ist anscheinend in dieser Situation, nur dass sie hier nicht auf einen Turm steigt und dort vom Balkon aus ihr Verlangen in die Natur hineinschreit, sondern es in einem Gedicht ausdrückt.

Recht überzeugend ist die literaturgeschichtliche Einordnung am Ende. Wichtige Elemente der Romantik werden aufgeführt und auf das Gedicht bezogen. Sehr positiv ist der Hinweis auf die Rückbindung am Schluss des Gedichtes, die diesen Text tatsächlich nah an das Bie-dermeier heranführt. Hier wäre es natürlich schön, wenn auf andere bekannte Gedichte oder auch andere Texte verwiesen werden könnte, aber das hängt natürlich vom Unter-richtszusammenhang ab. Man sollte aber auf keinen Fall darauf verzichten.

Ein Element verbindet dieses Gedicht sicher mit Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben ei-nes Taugenichts“, nämlich das Unbeschwerte, Leichtfertige der Träume, die anscheinend immer gut ausgehen.
Was die Sehnsucht angeht, die das Droste-Gedicht durchzieht, bietet sich ein Hinweis zum Beispiel auf Eichendorffs gleichnamiges Gedicht an. Auch dort fehlt allerdings das Wilde, Kämpferische, sehr schön übrigens auch “Frische Fahrt”.
Dieses findet sich zum Beispiel in dem zum Sturm und Drang gehörenden Gedicht „Prome-theus“ von Goethe, auch wenn dieses von der Thematik her sehr viel zielgerichteter ist und nicht den zurückgebundenen Schluss hat. Auch wenn die Droste lebenszeitlich weit vom Sturm und Drang entfernt ist, ein wenig atmet ihr Gedicht auch die Luft dieser Zeit.

Weitere Infos, Tipps und Materialien