Worum es hier geht:
- Wer ein Gedicht sucht, das nicht eindeutig einer Epoche zuzuordnen ist, sondern ganz unterschiedliche Bezüge aufweist, kann sehr gut auf dieses stark autobiografisch angehauchte Gedicht Annette von Droste-Hülshoffs zurückgreifen.
- Sehr interessant ist es auch, wenn es die Situation gebildeter Frauen im 19. Jahrhundert geht.
- Das Material liefert den Text sowie eine ausführliche schülergerechte und damit leicht verständliche Interpretation.
- Da diese außerdem noch „transparent“ vorgestellt und erläutert wird, ist dieses Material sehr hilf-reich, wenn man das Interpretieren von Gedichten lernen und trainieren will.
- Noch ein Hinweis am Rande: Sehr schön vergleichen kann man dieses Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff mit einem etwas älteren aus der Zeit der Romantik von Karoline von Günderode: „Der Kuss im Traume“.
Annette von Droste-Hülshoff
Strophe 1
Ich steh‘ auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass‘ gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!
Kleiner Tipp zu dieser Strophe
Was es mit dem wilden Gesellen und dem Umschlingen auf sich hat, klären wir auf dieser Seite und sogar in einem Video – siehe den Link auf der Seite:
https://schnell-durchblicken.de/gedicht-zeile-nicht-verstanden-was-kann-man-tun-beispiel-droste-huelshoff-am-turme
Strophe 2
Und drunten seh‘ ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht‘ ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute!
Strophe 3
Und drüben seh‘ ich ein Wimpel wehn
So keck wie ein Standarte,
Seh‘ auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht‘ ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.
Strophe 4
Wär‘ ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär‘ ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
(1842)
Aufgabenstellung:
Worterklärungen:
3 Mänade: wilde Frau im Kult des griechischen Weingottes Dionysos
5 Fant: unreifer, nicht ernstzunehmender junger Mann
Musterlösung: Form des Gedichtes
Besonders deutlich ist es dann in der zweiten Zeile: „Umstrichen vom schreienden Stare“ (-!–!–!-).
—
Anmerkungen zur Beschreibung der Form des Gedichtes
Etwas mehr Gedanken muss man sich dann schon bei der Klärung des Reimschemas und des Versmaßes machen. Letzteres macht am meisten Mühe – man könnte es noch sehr viel genauer untersuchen, aber da es recht kompliziert und ungewöhnlich ist, reicht wohl die Feststellung, dass es sich um einen sehr bewegten, musikalischen Rhythmus handelt.
Einstieg in die Vorstellung des Inhalts
Was den Inhalt des Gedichtes angeht, so beginnt es mit einer Situationsbeschreibung der Sprecherin, die sich zwar noch in einem Gebäude befindet, dort aber an ausgesetzter Stelle und hingegeben an die wilde Natur.
—
Beschreibung des 2. Teils von Strophe 1
Das zweite Quartett (Vierzeiler) der ersten Strophe bringt dann einen neuen Gesichtspunkt ins Spiel: Jetzt geht es nicht mehr um das Verhältnis eines Menschen zu seiner Umgebung, son-dern um die Auseinandersetzung zwischen zwei Lebewesen, die sowohl als Annäherung („kräftig umschlingen“) als auch als Kampf („ringen“) auf Leben und Tod begriffen wird.
Was hinter diesen beiden gegenläufigen Bewegungen steckt, wird nicht genannt. Offensicht-lich ist eine Art Doppelspiel des Lebens gemeint, das einen gewissen erotischen Grundzug enthält.
Wichtig ist in diesen beiden Absätzen, dass nicht nur eine Beschreibung erfolgt, sondern auch die Erklärung einer Lücke gesucht wird, denn es wird ja tatsächlich im Gedicht nicht weiter darauf eingegangen, wer das Gegenüber ist, zu dem die Sprecherin ein solch zwie-spältiges Verhältnis pflegt. Was noch hätte eingebracht werden können, das ist ein näheres Eingehen auf die Beschreibung dieses Gegenübers: Es wird nämlich in einen deutlichen Gegensatz gebracht zur Schlussbeschreibung der Sprecherin selbst: Die Attribute „wild“, „toll“ (im Sinne von „verrückt“) sowie das Nomen „Fant“ mit seiner mitgegebenen Worter-klärung gehen alle in ein und dieselbe Richtung. Es handelt sich um eine direkte Gegenwelt zur bürgerlichen Welt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Anmerkungen zum Beschreibung von Strophe 2 und 3
Ähnlich aufgebaut ist die zweite Strophe: Zunächst wird das Spiel der Wellen am Strand beschrieben. Die zweite Hälfte der Strophe bringt dann den Versuch der Sprecherin beziehungsweise ihren Wunsch, Teil des dort tobenden wilden Lebens zu werden.
Die dritte Strophe erweitert dann noch einmal den Blick. Jetzt geht es um ein Schiff auf dem Meer, von dem anscheinend zunächst nur der „Wimpel“ zu sehen ist, bevor auch der eigentliche Rumpf in den Blick kommt. Auch hier dominiert in der zweiten Strophenhälfte der Wunsch, selbst mit diesem Schiff etwas zu unternehmen, wobei das Motiv des Kampfes wieder auftaucht: „im kämpfenden Schiff“ (21).
Anmerkungen zum Beschreibung von Strophe 4
Die vierte Strophe verlässt die Bahn der ersten drei Strophen. Jetzt wird nicht zunächst eine Situation geschildert, sondern am Anfang steht gleich der zusammenfassende Wunsch, eine Rolle ausüben zu dürfen, die alle Perspektiven bietet. Sie ist für die Zeit der Entstehung des Gedichtes untrennbar mit der Männerwelt verbunden: Nur dort wird gejagt, darf Krieg geführt werden (was hier ganz unbefangen positiv gesehen wird!). Das geht so weit, dass der Spre-cherin das Mann-Sein allein schon reichen würde, ohne dass es direkt mit einer Tätigkeit ver-bunden wäre.
Die letzten vier Zeilen beschreiben dann zwei Grundsituationen der Sprecherin, zum einen das Eingebundensein in eine familiäre und klar geordnete Welt. Zum anderen aber gibt es zumindest die Andeutung eines heimlichen Ausbruchs, wenn auch nur für kurze Zeit und in der Fantasie, ausgedrückt im Bild des frei flatternden Haares.
Gut wird die Doppelexistenz der Sprecherin am Ende herausgearbeitet – wieder dargestellt im Indikativ.
Anmerkungen zum Beschreibung der Aussagen (Intentionalität)
Ganz deutlich ist die Zielrichtung des Gedichtes, es zeigt einen Menschen, genauer: eine Frau, die sich an den Rand dessen begibt, was ihr überhaupt möglich ist, um aus ihrer eingeschränkten Welt herauszukommen und zumindest ansatzweise etwas vom Abenteuer und der Wildheit des Lebens mitzubekommen.
Bezeichnend ist die Überschrift, die gleichzeitig eine symbolische Bedeutung hat. Der Turm und dort außerdem auch noch der Balkon ist, wie oben schon angedeutet, der am weitesten ausgesetzte Ort, den man in der geordneten Welt der Zivilisation überhaupt erreichen kann. Zumindest dort kann man etwas von der fehlenden Luft des Lebens und der Abenteuer schnuppern und seiner Fantasie freien Lauf lassen, auch wenn am Ende wieder die Realität Oberhand gewinnt.
Anmerkungen zum Beschreibung der sprachlichen u.ä. Mittel
Damit sind wir bereits bei den künstlerischen Mitteln:
- Es dominieren Vergleiche, (Z 3: „gleich einer Mänade“, Z10: „wie spielende Doggen“, Z 18: „wie eine Standarte“, Z 24: „wie eine Seemöve“.
— - Daneben gibt es eine sehr lebendige Beschreibung der Natur, zum Teil personalisiert: Z5: „O wilder Geselle, o toller Fant“, Z10/11: „wie spielende Doggen, die Wel-len/Sich tummeln ring mit Geklaff und Gezisch“ – hier spielt zudem Lautmalerei eine Rolle.
— - Wichtig ist auch der Aufbau der Strophen, die jeweils in der Mitte geteilt sind und bei den ersten drei Strophen zunächst immer eine Situation schildern und dann den dazugehörigen Wunsch bringen.
— - Auch in der vierten Strophe gibt es die Zweiteilung, nur dass hier der Wunsch am Anfang steht und am Ende die Einordnung in die behütete Welt mit nur kleinen Ausbruchmöglichkeiten folgt.
— - Fast hat man den Eindruck, dass die letzte Strophe in gewisser Weise schon den Einstieg in die Rückkehr ins Haus, in die behütete Welt deutlich machen soll, weil dort die Reihenfolge von Realität und Wunsch umgedreht wird.
Anmerkungen zur Einordnung in die Literaturgeschichte
Das Gedicht passt gut in die Zeit der Romantik, das beginnt schon mit der Sehnsucht, die es ausdrückt, dem Versuch der Flucht aus einer beschränkten und engen bürgerlichen Welt. Ro-mantisch ist sicherlich auch, dass die Sprecherin am liebsten aufgehen möchte in der Natur und sich ganz dem Abenteuer hingeben will.
Das Gedicht passt aber auch gut in die Zeit des Biedermeier, weil alles, was nach außen drängt, letztlich doch zurückgebogen wird in die bestehende Welt. Es wird geträumt von Wei-te und Welt, aber die Sprecherin muss „sitzen so fein und klar,/Gleich einem artigen Kinde“. Die letzten zwei Zeilen drücken im Gedicht selbst aus, was das Gedicht insgesamt tut. Auch Annette von Droste-Hülshoff ist anscheinend in dieser Situation, nur dass sie hier nicht auf einen Turm steigt und dort vom Balkon aus ihr Verlangen in die Natur hineinschreit, sondern es in einem Gedicht ausdrückt.
Ein Element verbindet dieses Gedicht sicher mit Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben ei-nes Taugenichts“, nämlich das Unbeschwerte, Leichtfertige der Träume, die anscheinend immer gut ausgehen.
Was die Sehnsucht angeht, die das Droste-Gedicht durchzieht, bietet sich ein Hinweis zum Beispiel auf Eichendorffs gleichnamiges Gedicht an. Auch dort fehlt allerdings das Wilde, Kämpferische, sehr schön übrigens auch “Frische Fahrt”.
Dieses findet sich zum Beispiel in dem zum Sturm und Drang gehörenden Gedicht „Prome-theus“ von Goethe, auch wenn dieses von der Thematik her sehr viel zielgerichteter ist und nicht den zurückgebundenen Schluss hat. Auch wenn die Droste lebenszeitlich weit vom Sturm und Drang entfernt ist, ein wenig atmet ihr Gedicht auch die Luft dieser Zeit.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Infos, Tipps und Materialien zur deutschen Literaturgeschichte
https://textaussage.de/deutsche-literaturgeschichte-themenseite
— - Romantik – Infos, Tipps und Materialien zu dieser Epoche der Literatur, bsd. auch Beispiele für Gedichtinterpretationen
https://textaussage.de/romantik-themenseite
— - Gedichte der Romantik – nach Themen geordnet Sammlung
https://textaussage.de/gedichte-der-romantik-thematisch
— - Klausuren – Sammlung
https://textaussage.de/sammlung-klausuren
— - Tipps speziell zu Klausuren und Klassenarbeiten
https://textaussage.de/allgemeine-tipps-zu-klausuren-wie-man-mit-wenig-aufwand-mehr-erreicht
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos