Worum es hier geht:
Weiter unten haben wir die Seiten angegeben, auf denen wir uns mit dem Gedicht beschäftigt haben, das wir hier kritisch beleuchten.
Hier geht es darum, das zu erweitern – ins Grundsätzliche hinein.
Und da bietet sich natürlich diese Textform an:
Kolumne: Der „Madensack“ im Spiegel der Gegenwart
(Ein Denkanstoß für Lehrkräfte und Schüler)
Lars Krüsand
Vom Barock-Schock zur Selbstkritik: Was uns eine „Letzte Rede“ über unsere eigenen Wahrheiten verrät
Manche Texte im Deutschunterricht wirken auf den ersten Blick wie historische Pflichtübungen, deren Moral heute allenfalls ein müdes Lächeln hervorruft. Nehmen wir Simon Dachs berühmtes Barockgedicht „Letzte Rede einer vormals stolzen und gleich jetzt sterbenden Jungfrau“. Die Quintessenz scheint klar: Sei nicht eitel und hochmütig, denn der Tod macht aus dir einen „Madensack“ und „Haut und Knochen“, die stinken.
Doch wer diesen Text nur als historische Warnung abheftet, verpasst die eigentliche didaktische Chance. Denn das Gedicht ist voller Denkfehler, die uns helfen können, die Denkfehler unserer eigenen Zeit zu erkennen.
Der „Madensack“-Fehler: Wenn Moral die Realität überdeckt
In der Barockzeit (geprägt von Kriegen und Seuchen) überlagerte die Angst-Moral oft die menschliche Realität. Das zeigt sich im Kernirrtum dieses Gedichts:
- Die sterbende Jungfrau wird als Strafe für ihren Hochmut dargestellt. Ihr schrecklicher Verfall sei die verdiente Folge ihrer Eitelkeit.
- Dies ignoriert die biblische und biologische Realität: Der körperliche Zerfall ist ein naturgesetzlicher Prozess, der alle trifft – ob eitel oder demütig.
Dach verschleiert damit das biblische Ideal der „lebenssatten“ Erfüllung – ein würdiger Abschluss nach einem langen Leben (z.B. Abraham). Er ersetzt es durch ein rein abschreckendes Bild des Zerfalls und verwandelt so den universellen Tod in eine persönliche moralische Anklage. Der Tod wird nicht als Ende, sondern als Gericht instrumentalisiert.
Man stelle sich vor, ein Trauzeuge würde auf einer Hochzeit sagen: „Seid nicht zu glücklich, denkt immer an die mögliche Scheidung!“ Die Warnung verliert ihre Berechtigung, wenn sie die Freude und die Gestaltungskraft des Lebens negiert und nur aus der Angst motiviert.
Das Doppelzimmer der Kritik
Diesen Denkfehler muss man bis zum „blutigen Punkt“ durchdenken. Erlaubt uns Dachs Logik nicht, einen Kranken im Doppelzimmer zu fragen: „Na, welche Sünde hast du begangen?“ Das Gedicht schafft eine moralische Überheblichkeit, die Leid sofort mit Schuld gleichsetzt. Auch ein Mensch, der ein Leben lang tugendhaft und demütig war, leidet höllisch. Die Moral des Barock bricht hier zusammen, weil sie die Würde des Leidenden opfert, um ihre Lektion durchzusetzen.
Vom Barock zur Selbstkritik
Genau hier liegt der Wert der kritischen Beschäftigung mit der Barockzeit. Der Deutschunterricht sollte Schüler nicht mit diesen harten moralischen Urteilen allein lassen, sondern sie als Werkzeug nutzen:
- Identifiziere die Einseitigkeit: Das Barockgedicht fixiert sich auf ein einseitiges Narrativ (Madensack/Strafe) und ignoriert die Gänze menschlicher Erfahrung (Lebenssatt/Würde).
- Wende die Kritik an: Welche Paradigmen unserer Gegenwart halten wir für unumstößlich, die künftige Generationen nur mit dem Kopf schütteln lassen?
- Der globale Süden beginnt, die Narrative unserer westlichen Kultur (Kolonialismus, Post-Kolonialismus) zu hinterfragen.
- Die Überbetonung von ungebremstem Wachstum und Konsum mag die „Eitelkeit“ unserer Epoche sein, deren Konsequenzen wir als naturgesetzliche „Strafe“ (Klimawandel) erleben werden.
Wer die barocke Mechanik – die Angst-Moral und die Instrumentalisierung des menschlichen Schicksals – entschlüsselt hat, der hat das Werkzeug der historischen Kritik erworben. Und dieses Werkzeug können wir nutzen, um die verborgenen Denkfehler in unseren eigenen gegenwärtigen Wahrheiten aufzuspüren.
Die „Letzte Rede“ lehrt uns somit nicht nur etwas über das 17. Jahrhundert. Sie lehrt uns, dass wir unsere eigenen kulturellen Dogmen kritisch hinterfragen müssen, bevor sie in der Zukunft als unhaltbare historische Mängel entlarvt werden.
Auf den folgenden Seiten haben wir uns mit diesem Gedicht beschäftigt:
- https://schnell-durchblicken.de/barock-gedicht-simon-dach-letzte-rede-einer-sterbenden-jungfrau
— - https://schnell-durchblicken.de/mia-fixpunkte-tipps-zum-barockgedicht-von-simon-dach-letzte-rede-einer-vormals-stolzen-und-gleich-jetzt-sterbenden-jungfrau
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Hier das Video mit dem Speed-Dating
Hier die Dokumentation:
Mat2704-sdl unb Letzte Rede Jungfrau Simon Dach pcf3
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Vorstellung des Gedichtes in Form einer Audio-Datei gibt es hier:
https://schnell-durchblicken.de/audio-vorstellung-des-barockgedichts-von-simon-dach-letzte-rede-einer-vormals-stolzen-und-gleich-jetzt-sterbenden-jungfrau
— - Barock, bsd. Lyrik
https://textaussage.de/lyrik-der-epoche-des-barock-themenseite
— - Barock – die wichtigsten Gedichte
https://textaussage.de/barock-die-wichtigsten-gedichte
— - Infos, Tipps und Materialien zur deutschen Literaturgeschichte
https://textaussage.de/deutsche-literaturgeschichte-themenseite
— - Übersicht über unsere Themenseiten auf textaussage.de
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— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
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