Lars Krüsand, Was das Drama „Nathan der Weise“ wirklich wertvoll macht (Mat8572)

Worum es hier geht:

  1. Lessings „Nathan der Weise“ wird seit über 200 Jahren als Musterbeispiel für Verständnis und Toleranz gepriesen.
  2. Wenn man genauer hinschaut,
    • entdeckt man leider, dass vom Verständnis für Religionen  so gut wie nichts zu sehen ist
    • und die Toleranz steht auch auf sehr schwachen Beinen.
    • Zumindest ist es mit der aufgeklärten Menschlichkeit bei Nathan nicht weit hin:
      • Ein Christenkind betrügt er, was seine Religion angeht.
      • Von selbstständigem Forschen hält er sie fern, weil sie nur an seinen Lippen hängen soll und von Büchern ferngehalten wird.
      • Und der arme Tempelherr wird von Nathan  am Nasenring durch die Manege seiner Show geführt.
      • Statt ihn in die Überlegungen zu seiner Herkunft einzubeziehen, lässt er den jungen Mann sich richtig verlieben.
      • Am Ende darf er dann von seiner Geliebten geschwisterlichen Abstand halten.
    • Um so etwas gut zu finden, muss man vorwiegend aus Wissens-Schubladen gelebt haben, statt die eigene Vernunft zu gebrauchen.
  3. Aber zur guten Dialektik gehört nach These und Antithese eben auch die Synthese. Die gute „Aufhebung“ aller Probleme versteckt sich in dem Gespräch zwischen Nathan und dem Sultan zwischen den beiden Teilen der Ringparabel. Was da steht, könnte wirklich zum gegenseitigen Verständnis und zur Toleranz zwischen den Religionen beitragen.

Wir präsentieren hier einen kurzen Essay, den unser Autor Lars Krüsand, ein erfahrener Deutschlehrer, der aber auf „Fragmente“ im Sinne von  Adorno und Horkheimer steht. Das sind gewissermaßen die Einwürfe von der Seitenlinie auf das Hauptspielfeld, was dann dem Spiel manchmal eine andere Richtung geben kann.

Eine Druckfassung hängen wir unten an:

Lars Krüsand, Was das Drama „Nathan der Weise“ wirklich wertvoll macht

  1. Wer Literatur wirklich versteht und vielleicht sogar liebt, der verteidigt sie auch gegen die Germanistik.
  2. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Germanistik ist eine ehrenwerte Wissenschaft, die unendlich viel leistet, um Literatur zu erhalten und das Verständnis von ihr zu erweitern.
  3. Allerdings hat der Deutschunterricht eine andere Aufgabe:
    Er soll nämlich nicht eine Art Mini-Germanistik präsentieren, sondern das Verständnis für Literatur und vielleicht sogar Begeisterung für sie entwickeln.
  4. Vor allem sollte Literatur nicht in erster Linie als Element der Literaturgeschichte begriffen werden, sondern als Kunst – und das heißt: ein kreatives Spiel über die Grenzen der uns umgebenden Realität hinaus.
  5. Das heißt: Jeder, der ein Gedicht, eine Kurzgeschichte oder gar einen Roman verfasst, entwirft damit ein Spielfeld. Die Figuren auf dem Platz, ja sogar die Spielregeln können frei erfunden sein, wenn sie natürlich auch dem Kopf des Verfassers entspringen und damit etwas mit seinen Erfahrungen und seiner Persönlichkeit zu tun haben.
  6. Das bedeutet grundsätzlich: Das, was das literarische Werk sagt, muss nicht dem entsprechen, was der Dichter sagen wollte.
  7. Den extremsten Fall findet man im Roman „Homo Faber“ von Max Frisch. Dort reagiert der „Held“ auf die Mitteilung seiner Geliebten „Ich bin schwanger“ mit der Frage: „Und was machen wir jetzt mit deinem Kind?“ Das war das Ende der Beziehung. Das heißt: Die Frau hatte den Satz „richtiger“ verstanden, als der Mann wahrscheinlich sagen wollte.
  8. Was hat das nun mit Lessing und seinem Werk zu tun. Ganz einfach: Das Werk ist in seiner Hauptrichtung ganz darauf ausgerichtet, den Grundgedanken der Aufklärung zu Fragen der Religion auf die Bühne zu bringen: „Leute, macht euch nicht so einen Stress mit eurem Glauben – seid einfach nett zu einander und alles wird gut.“
  9. Die ganze Ringparabel ist nichts als das „Märchen“, mit dem Nathan aus der Falle Sittahs herauskommen wollte. Die wollte ihn nämlich durch ihren Bruder so weichkochen lassen, dass er am Ende gern das notwendige Geld rausrückte.
  10. Und dem Sultan gefiel die Ringparabel auch, denn wenn die Gläubigen aller Religionen sich daran hielten, hatte er weniger Stress mit ihnen. Dass das nichts als eine Illusion in der Realität gewesen wäre, dafür sprechen schon der Patriarch und die anderen Tempelritter – von den muslimischen Geistlichen, die ihren Glauben ernster nehmen als Lessing, sorry: Nathan, ganz zu schweigen.
  11. So viel zu einem Stück, das nichts zu zeigen scheint als die Naivität und Realitätsfremdheit der Aufklärung.
  12. Nun zu einem Stück, das auf geradezu bezaubernde Weise auch noch einen Aussage-Edelstein bereithält, über den man nicht genug nachdenken kann.
  13. Es ist der kurze Dialog zwischen Nathan und dem Sultan zwischen den beiden Teilen der Ringparabel. Dort wird deutlich, dass man Frieden zwischen den Religionen nicht herstellen kann, wenn man den transzendenten Offenbarungsbereich einbezieht oder ihn einfach ausblendet.
  14. Wohl aber kann man Verständnis und letztlich auch friedliches Miteinander herstellen, wenn man einfach anerkennt, dass jeder Mensch sich in einer Art Gleichgewicht befindet. Dazu gehören auch Grundüberzeugungen bis hin zur Religion. Mit deren Anhängern und Vermittlern ist man nämlich groß geworden – und sie passt auch zur gesamten Kultur, in der man aufwächst. Da ist es der natürliche Normalfall, dass man in dieser Religion auch weiterlebt – und jeder Übertritt in eine andere Religion ist Ergebnis einer schwierigen Entscheidung, die nur vom Individuum selbst getroffen werden kann – meist unter großen Schmerzen.
  15. Langer Rede kurzer Sinn: Lessings „Nathan der Weise“ ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass man sich nicht von der scheinbaren Hauptaussage verführen lassen darf. Es gilt – entsprechend Kants Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung“ – selbst zu denken, ohne Anleitung eines anderen, nicht mal, wenn es der Verfasser ist. Jeder Text – und besonders ein literarischer – enthält mehr, als der Verfasser hineingelegt hat – und manchmal sogar etwas völlig anderes als das, was an der Oberfläche präsentiert wird.

Die Druckdatei

Mat8572 Lars Krüsand, Was das Drama Nathan der Weise wirklich wertvoll macht

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