Lektüre-Guide Seiten: Goethe, „Werther“, Zweites Buch (Mat8662-2-abEB91)

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haben wir das zweite Buch von Goethes „Werther“ bis zur E-Book-Seite 91 vorgestellt.

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Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 6, Hamburg 1948 ff, S. 60-124.
Wieder bei Lotte (91-106)
  • Und dann passiert, was jetzt kommen muss. Er bricht zu irgendwelchen Bergwerken auf:
    EB91: „ich will nur Lotten wieder näher, das ist alles. Und ich lache über mein eigenes Herz – und tu‘ ihm seinen Willen.“
  • Es kommt noch schlimmer: Am 29. Julius reicht Werther das nicht – er trägt es nicht, „wenn Albert sie um den schlanken Leib faßt.“ Und dieses körperliche Bedürfnis wird dann auch sofort verbunden mit:
    EB91
    „Sie wäre mit mir glücklicher geworden als mit ihm! O er ist nicht der Mensch, die Wünsche dieses Herzens alle zu füllen. Ein gewisser Mangel an Fühlbarkeit, ein Mangel – nimm es, wie du willst; daß sein Herz nicht sympathetisch schlägt bei – o! – bei der Stelle eines lieben Buches,
  • wo mein Herz und Lottens in einem zusammentreffen; in hundert andern Vorfällen, wenn es kommt, daß unsere Empfindungen über eine Handlung eines Dritten laut werden.
  • Lieber Wilhelm! – Zwar er liebt sie von ganzer Seele, und so eine Liebe, was verdient die nicht! –
  • Dann erlebt Werther bei Lotte das Gleiche wie in seiner Geburtsstadt:
    EB93: Wenn ich zum Tor hinausgehe, den Weg, den ich zum erstenmal fuhr, Lotten zum Tanze zu holen, wie war das so ganz anders!
  • Alles, alles ist vorübergegangen! Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulsschlag meines damaligen Gefühles.
  • Mir ist es, wie es einem Geiste sein müßte, der in das ausgebrannte, zerstörte Schloß zurückkehrte, das er als blühender Fürst einst gebaut und mit allen Gaben der Herrlichkeit ausgestattet, sterbend seinem geliebten Sohne hoffnungsvoll hinterlassen hätte.“
  • Und dann wieder das Gejammer:
    EB93: „Ich begreife manchmal nicht, wie sie ein anderer lieb haben kann, lieb haben darf, da ich sie so ganz allein, so innig, so voll liebe, nichts anders kenne, noch weiß, noch habe als sie!“
  • EB93: Zwischendurch dann die Begegnung mit einem Bauernburschen, der seine Herrin geliebt hatte, dann aber übergriffig wurde und den Hof verlassen musste. Statt das Problem zu erkennen, sieht Werther darin echte Liebe und vergleicht sich damit.
  • EB97/98: Lotte nutzt ein kleines Spiel mit ihrem Kanarienvogel, zu einer gemeinsamen Kuss-Aktion, worin Werther ein Problem sieht:
    EB98:
    „Sie sollte es nicht tun, sollte nicht meine Einbildungskraft mit diesen Bildern himmlischer Unschuld und Seligkeit reizen und mein Herz aus dem Schlafe, in den es manchmal die Gleichgültigkeit des Lebens wiegt, nicht wecken! –
  • Und warum nicht? – Sie traut mir so! sie weiß, wie ich sie liebe!“
  • Auf EB100 ist die Rede davon, dass das ziemlich morbide (todessüchtige) angebliche Epos eines Ossian in seinem Herzen „den Homer verdrängt. Es wird deutlich, in welche Richtung Werther sich entwickelt. Das entspricht auch seinen Gefühlen gegenüber Lotte: Auf EB 103 jammert er, bei Lotte „nicht zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit. Greifen die Kinder nicht nach allem, was ihnen in den Sinn fällt? – Und ich?“
  • Das wirkt sich auch auf sein kreatives Leben aus:
    Am 3. November: „ (EB103)
    „Und dies Herz ist jetzt tot, aus ihm fließen keine Entzückungen mehr, meine Augen sind trocken, und meine Sinne, die nicht mehr von erquickenden Tränen gelabt werden, ziehen ängstlich meine Stirn zusammen. Ich leide viel, denn ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war, die heilige, belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin! –
  • Lotte bleibt leider weiter auf einer Linie, die Werthers Probleme eher vergrößert:
    Am 21. November – EB106:

    • „Sie sieht nicht, sie fühlt nicht, daß sie ein Gift bereitet, das mich und sie zugrunde richten wird;
    • und ich mit voller Wollust schlürfe den Becher aus, den sie mir zu meinem Verderben reicht.
    • Was soll der gütige Blick, mit dem sie mich oft – oft? – nein, nicht oft, aber doch manchmal ansieht, die Gefälligkeit, womit sie einen unwillkürlichen Ausdruck meines Gefühls aufnimmt, das Mitleiden mit meiner Duldung, das sich auf ihrer Stirne zeichnet?
    • Gestern, als ich wegging, reichte sie mir die Hand und sagte: »Adieu, lieber Werther!« –
    • Lieber Werther! Es war das erstemal, daß sie mich Lieber hieß, und es ging mir durch Mark und Bein. Ich habe es mir hundertmal wiederholt, und gestern nacht, da ich zu Bette gehen wollte und mit mir selbst allerlei schwatzte, sagte ich so auf einmal: »Gute Nacht, lieber Werther!« und mußte hernach selbst über mich lachen.“

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Zunehmende Krankheit bei Werther (106-120)
  • November 1772 – S. 108
    EB108-111
    Werther trifft einen Mann, der früher auch mal verliebt war in Lotte, und jetzt im Winter Blumen sucht. Er ist offensichtlich nicht mehr bei klarem Verstand.
    Interessant, wie Werther darauf reagiert:
    Angesichts der aktuellen Situation, in der der Mann sich beim Blumensuchen im Winter glücklich fühlt, ruft Werther aus:

    • EB110
      „Gott im Himmel! hast du das zum Schicksale der Menschen gemacht, daß sie nicht glücklich sind, als ehe sie zu ihrem Verstande kommen und wenn sie ihn wieder verlieren! – Elender! und auch wie beneide ich deinen Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus, deiner Königin Blumen zu pflücken – im Winter – und trauerst, da du keine findest, und begreifst nicht, warum du keine finden kannst.
    • EB110
      Und ich – und ich gehe ohne Hoffnung, ohne Zweck heraus und kehre wieder heim, wie ich gekommen bin. – Du wähnst, welcher Mensch du sein würdest, wenn die Generalstaaten dich bezahlten. Seliges Geschöpf, das den Mangel seiner Glückseligkeit einer irdischen Hindernis zuschreiben kann! Du fühlst nicht, du fühlst nicht, daß in deinem zerstörten Herzen, in deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle Könige der Erde dir nicht helfen können.“
  • Am 4. Dezember stellt Werther dann auch folgerichtig fest:
    • EB111: Siehst du, mit mir ist’s aus, ich trag‘ es nicht länger!“
      Dann erzählt er, wie er auf das Klavierspiel Lottes „mit einem heftigen Ausbruch“ reagiert, worauf Lotte so reagiert:
    • EB111: Sie hielt und sah mich starr an.
      »Werther,« sagte sie mit einem Lächeln, das mir durch die Seele ging, »Werther, Sie sind sehr krank, Ihre Lieblingsgerichte widerstehen Ihnen. Gehen Sie! Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich.« –
      Und Werther:
      Ich riß mich von ihr weg und – Gott! du siehst mein Elend und wirst es enden.
  • Und am 6. Dezember auf EB 112 erkennt Werther
    • EB113:
      Was ist der Mensch, der gepriesene Halbgott!
    • Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er sie am nötigsten braucht?
    • Und wenn er in Freude sich aufschwingt oder im Leiden versinkt, wird er nicht in beiden eben da aufgehalten, eben da zu dem stumpfen, kalten Bewußtsein wieder zurückgebracht, da er sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren sehnte?
S. 114: Der Schluss – aus der Sicht des Herausgebers (114ff)
  • Werther ist inzwischen kaum noch in der Lage, sich in Briefen zu äußern. Der Herausgeber beschreibt deshalb eine veränderte Darstellungsweise.
    • EB114
      Ich habe mir angelegen sein lassen, genaue Nachrichten aus dem Munde derer zu sammeln, die von seiner Geschichte wohl unterrichtet sein konnten;
    • sie ist einfach, und es kommen alle Erzählungen davon bis auf wenige Kleinigkeiten miteinander überein;
    • nur über die Sinnesarten der handelnden Personen sind die Meinungen verschieden und die Urteile geteilt.
    • Was bleibt uns übrig,
      • als dasjenige, was wir mit wiederholter Mühe erfahren können, gewissenhaft zu erzählen,
      • die von dem Abscheidenden hinterlaßnen Briefe einzuschalten
      • und das kleinste aufgefundene Blättchen nicht gering zu achten;
      • zumal da es so schwer ist, die eigensten, wahren Triebfedern auch nur einer einzelnen Handlung zu entdecken, wenn sie unter Menschen vorgeht, die nicht gemeiner Art sind.
    • Als erstes stellt der Herausgeber zusammenfassend fest:
      • EB114: Unmut und Unlust hatten in Werthers Seele immer tiefer Wurzel geschlagen,
      • sich fester untereinander verschlungen und sein ganzes Wesen nach und nach eingenommen.
      • Die Harmonie seines Geistes war völlig zerstört,
      • eine innerliche Hitze und Heftigkeit, die alle Kräfte seiner Natur durcheinanderarbeitete, brachte die widrigsten Wirkungen hervor
      • und ließ ihm zuletzt nur eine Ermattung übrig,
      • aus der er noch ängstlicher empor strebte, als er mit allen Übeln bisher gekämpft hatte.
      • Die Beängstigung seines Herzens zehrte die übrigen Kräfte seines Geistes, seine Lebhaftigkeit seinen Scharfsinn auf,
      • er ward ein trauriger Gesellschafter, immer unglücklicher, und immer ungerechter, je unglücklicher er ward.
    • EB115: Bei Albert ergibt sich langsam eine Veränderung:
      • EB115
        Er liebte Lotten über alles, er war stolz auf sie und wünschte sie auch von jedermann als das herrlichste Geschöpf anerkannt zu wissen.
      • War es ihm daher zu verdenken, wenn er auch jeden Schein des Verdachtes abzuwenden wünschte, wenn er in dem Augenblicke mit niemand diesen köstlichen Besitz auch auf die unschuldigste Weise zu teilen Lust hatte?
      • Sie gestehen ein, daß Albert oft das Zimmer seiner Frau verlassen, wenn Werther bei ihr war, aber nicht aus Haß noch Abneigung gegen seinen Freund, sondern nur weil er gefühlt habe, daß dieser von seiner Gegenwart gedrückt sei.
    • EB116 Werther erkennt auch, dass er doch zu einem Problem geworden ist und stellt im Hinblick auf Albert fest:
      • EB116: „Ich weiß es wohl, ich fühl‘ es, er sieht mich ungern, er wünscht meine Entfernung, meine Gegenwart ist ihm beschwerlich.«“
    • EB117ff: Werther erfährt dann, dass ein Bauer erschlagen worden ist. Der Täter ist der Knecht, der letztlich unheilvoll in seine Herrin verliebt war. Er erklärt:
      EB118:
      Keiner wird sie haben, sie wird keinen haben.“
      Werther erkennt eine Ähnlichkeit der Lage und versucht – natürlich vergeblich – den Mann vor Strafe zu bewahren. Man erkennt bei ihm eine ähnliche Haltung wie in der Frage des Selbstmords gegenüber Albert.
      Entlarvend ist Werthers Fazit auf einem Zettel:
      EB119: »Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! ich sehe wohl daß wir nicht zu retten sind.«
      Später geht Werther sogar so weit gegenüber Lotte seine Bereitschaft zum Selbstmord so zu begründen:

      • EB128: „Es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewißheit, daß ich ausgetragen habe, und daß ich mich opfere für dich.
      • Ja, Lotte! warum sollte ich es verschweigen? Eins von uns dreien muß hinweg, und das will ich sein!
      • O meine Beste! in diesem zerrissenen Herzen ist es wütend herumgeschlichen, oft – deinen Mann zu ermorden! – dich! – mich! – So sei es denn! –
Ab EB120 Albert wird deutlicher – und Lotte will ihm folgen
  • Aber zunächst ist es noch nicht so weit, allerdings wird Albert langsam doch gegenüber Lotte deutlicher.
    • EB120:
      Albert fing von ihm an zu reden, er tadelte ihn, indem er ihm Gerechtigkeit widerfahren ließ.
    • Er berührte seine unglückliche Leidenschaft und wünschte, daß es möglich sein möchte, ihn zu entfernen. –
    • »Ich wünsch‘ es auch um unsertwillen,« sagt‘ er, »und ich bitte dich,« fuhr er fort, »siehe zu, seinem Betragen gegen dich eine andere Richtung zu geben, seine öftern Besuche zu vermindern.
    • Die Leute werden aufmerksam, und ich weiß, daß man hier und da drüber gesprochen hat.« –
    • Lotte schwieg, und Albert schien ihr Schweigen empfunden zu haben, wenigstens seit der Zeit erwähnte er Werthers nicht mehr gegen sie, und wenn sie seiner erwähnte, ließ er das Gespräch fallen oder lenkte es woanders hin.
  • Werthers Verzweiflung, aber auch Verwirrung wird dann besonders im Brief vom 14. Dezember deutlich (EB122):
    • EB123:
      Was ist das, mein Lieber? Ich erschrecke vor mir selbst! Ist nicht meine Liebe zu ihr die heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Habe ich jemals einen strafbaren Wunsch in meiner Seele gefühlt? – Ich will nicht beteuern
    • – Und nun, Träume! O wie wahr fühlten die Menschen, die so widersprechende Wirkungen fremden Mächten zuschrieben!
    • Diese Nacht! ich zittere, es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen Busen gedrückt, und deckte ihren liebelispelnden Mund mit unendlichen Küssen; mein Auge schwamm in der Trunkenheit des ihrigen!
    • Gott! bin ich strafbar, daß ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle, mir diese glühenden Freuden mit voller Innigkeit zurückzurufen? Lotte! Lotte! –
    • Und mit mir ist es aus! Meine Sinne verwirren sich, schon acht Tage habe ich keine Besinnungskraft mehr, meine Augen sind voll Tränen. Ich bin nirgend wohl, und überall wohl. Ich wünsche nichts, verlange nichts. Mir wäre besser, ich ginge.«
  • Was Lotte angeht, so nimmt sie den Hinweis Alberts ernst: Sie erweist sich hier nach Auffassung des Herausgebers als „schöne weibliche Seele“ – übrigens eine interessante Vorstufe zur späteren klassischen Vorstellung von einer solchen Frau bei Schiller:
    • EB124: „sie war fest bei sich entschlossen, alles zu tun, um Werthern zu entfernen,
    • und wenn sie zauderte, so war es eine herzliche, freundschaftliche Schonung, weil sie wußte, wie viel es ihm kosten, ja daß es ihm beinahe unmöglich sein würde.
    • Doch ward sie in dieser Zeit mehr gedrängt, Ernst zu machen; es schwieg ihr Mann ganz über dies Verhältnis, wie sie auch immer darüber geschwiegen hatte,
    • und um so mehr war ihr angelegen, ihm durch die Tat zu beweisen, wie ihre Gesinnungen der seinigen wert seien.“
  • Lotte bittet dann Werther, zumindest die vier Tage bis zum Weihnachtsfest nicht mehr aufzutauchen und versucht noch einmal, ihn zur Vernunft zu bringen (EB125)
    • EB126:
      »Werther, Sie können, Sie müssen uns wiedersehen, nur mäßigen Sie sich.
    • O warum mußten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles, was Sie einmal anfassen, geboren werden!
    • Ich bitte Sie,« fuhr sie fort, indem sie ihn bei der Hand nahm, »mäßigen Sie sich! Ihr Geist, Ihre Wissenschaften, Ihre Talente, was bieten die Ihnen für mannigfaltige Ergetzungen dar!
    • Sein Sie ein Mann, wenden Sie diese traurige Anhänglichkeit von einem Geschöpf, das nichts tun kann als Sie bedauern.« –
    • Er knirrte mit den Zähnen und sah sie düster an. – Sie hielt seine Hand. »Nur einen Augenblick ruhigen Sinn, Werther!« sagte sie. »Fühlen Sie nicht, daß Sie sich betriegen, sich mit Willen zugrunde richten!
    • Warum denn mich, Werther? just mich, das Eigentum eines andern? just das? Ich fürchte, ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht.«
  • Interessant ist die wenig einsichtige, stattdessen eher hämische Reaktion Werthers:
    • EB127:
      »Weise!« rief er, »sehr weise! hat vielleicht Albert diese Anmerkung gemacht? Politisch! sehr politisch!« –
  • Und auf weitere Ratschläge Lottes erwidert er:
    • EB127
      »Das könnte man«, sagte er mit einem kalten Lachen, »drucken lassen und allen Hofmeistern empfehlen. Liebe Lotte! lassen Sie mir noch ein klein wenig Ruh, es wird alles werden!«“
  • Interessant, was der Herausgeber anschließend zu Lotte feststellt:
    • EB130/131 Lotte war indes in einen sonderbaren Zustand geraten. Nach der letzten Unterredung mit Werthern hatte sie empfunden, wie schwer es ihr fallen werde, sich von ihm zu trennen, was er leiden würde, wenn er sich von ihr entfernen sollte. […]
    • Sie sah sich nun mit dem Mann auf ewig verbunden, dessen Liebe und Treue sie kannte, dem sie von Herzen zugetan war, dessen Ruhe, dessen Zuverlässigkeit recht vom Himmel dazu bestimmt zu sein schien, daß eine wackere Frau das Glück ihres Lebens darauf gründen sollte; sie fühlte, was er ihr und ihren Kindern auf immer sein würde.
    • Auf der andern Seite war ihr Werther so teuer geworden, gleich von dem ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an hatte sich die Übereinstimmung ihrer Gemüter so schön gezeigt, der lange dauernde Umgang mit ihm, so manche durchlebte Situationen hatten einen unauslöschlichen Eindruck auf ihr Herz gemacht.
    • Alles, was sie Interessantes fühlte und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen, und seine Entfernung drohete in ihr ganzes Wesen eine Lücke zu reißen, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte.
    • O, hätte sie ihn in dem Augenblick zum Bruder umwandeln können, wie glücklich wäre sie gewesen! Hätte sie ihn einer ihrer Freundinnen verheiraten dürfen, hätte sie hoffen können, auch sein Verhältnis gegen Albert ganz wieder herzustellen!
    • Sie hatte ihre Freundinnen der Reihe nach durchgedacht und fand bei einer jeglichen etwas auszusetzen, fand keine, der sie ihn gegönnt hätte.

EB141ff Werther bricht sein Versprechen – Eklat und Ende

  • Werther bricht dann sein Versprechen, besucht Lotte doch vorzeitig – Lotte möchte schon nicht mehr mit ihm allein sein. Werther liest ihr dann trübsinnige Auszüge aus den angeblichen Gesängen Ossians vor und erreicht dann auch etwas, was er sich wahrscheinlich wünscht:
    • EB141
      „Ein Strom von Tränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem gepreßten Herzen Luft machte, hemmte Werthers Gesang. Er warf das Papier hin, faßte ihre Hand und weinte die bittersten Tränen. Lotte ruhte auf der andern und verbarg ihre Augen ins Schnupftuch. Die Bewegung beider war fürchterlich. Sie fühlten ihr eigenes Elend in dem Schicksale der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Tränen vereinigten sich. Die Lippen und Augen Werthers glühten an Lottens Arme; ein Schauer überfiel sie; sie wollte sich entfernen, und Schmerz und Anteil lagen betäubend wie Blei auf ihr. Sie atmete, sich zu erholen, und bat ihn schluchzend fortzufahren, bat mit der ganzen Stimme des Himmels! Werther zitterte, sein Herz wollte bersten.“
  • Dann kommt es zum Eklat:
    • Die ganze Gewalt dieser Worte fiel über den Unglücklichen. Er warf sich vor Lotten nieder in der vollen Verzweifelung, faßte ihre Hände, drückte sie in seine Augen, wider seine Stirn, und ihr schien eine Ahnung seines schrecklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen. Ihre Sinne verwirrten sich, sie drückte seine Hände, drückte sie wider ihre Brust, neigte sich mit einer wehmütigen Bewegung zu ihm, und ihre glühenden Wangen berührten sich. Die Welt verging ihnen. Er schlang seine Arme um sie her, preßte sie an seine Brust und deckte ihre zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden Küssen. – »Werther!« rief sie mit erstickter Stimme, sich abwendend, »Werther!«, und drückte mit schwacher Hand seine Brust von der ihrigen; »Werther!« rief sie mit dem gefaßten Tone des edelsten Gefühles. – Er widerstand nicht, ließ sie aus seinen Armen und warf sich unsinnig vor sie hin. – Sie riß sich auf, und in ängstlicher Verwirrung, bebend zwischen Liebe und Zorn, sagte sie: »Das ist das letzte Mal! Werther! Sie sehn mich nicht wieder.« Und mit dem vollsten Blick der Liebe auf den Elenden eilte sie ins Nebenzimmer und schloß hinter sich zu. – Werther streckte ihr die Arme nach, getraute sich nicht, sie zu halten. Er lag an der Erde, den Kopf auf dem Kanapee, und in dieser Stellung blieb er über eine halbe Stunde, bis ihn ein Geräusch zu sich selbst rief. Es war das Mädchen, das den Tisch decken wollte. Er ging im Zimmer auf und ab, und da er sich wieder allein sah, ging er zur Türe des Kabinetts und rief mit leiser Stimme: »Lotte! Lotte! nur noch ein Wort! Ein Lebewohl!« – Sie schwieg. – Er harrte und bat und harrte; dann riß er sich weg und rief: »Lebe wohl, Lotte! Auf ewig lebe wohl!«
  • Werther schreibt dann noch einen Abschiedsbrief und zeigt sich dann von der schon bekannt egoistischen Seite:
    • EB143: O vergib mir! vergib mir! Gestern! Es hätte der letzte Augenblick meines Lebens sein sollen. O du Engel! Zum ersten Male, zum ersten Male ganz ohne Zweifel durch mein innig Innerstes durchglühte mich das Wonnegefühl: Sie liebt mich! Sie liebt mich! Es brennt noch auf meinen Lippen das heilige Feuer, das von den deinigen strömte, neue, warme Wonne ist in meinem Herzen. Vergib mir! vergib mir!
    • Ach, ich wußte, daß du mich liebtest, wußte es an den ersten seelenvollen Blicken, an dem ersten Händedruck, und doch, wenn ich wieder weg war, wenn ich Alberten an deiner Seite sah, verzagte ich wieder in fieberhaften Zweifeln. […]
    • Alles das ist vergänglich, aber keine Ewigkeit soll das glühende Leben auslöschen, das ich gestern auf deinen Lippen genoß, das ich in mir fühle! Sie liebt mich! Dieser Arm hat sie umfaßt, diese Lippen haben auf ihren Lippen gezittert, dieser Mund hat an dem ihrigen gestammelt. Sie ist mein! du bist mein! ja, Lotte, auf ewig.
    • Und was ist das, daß Albert dein Mann ist? Mann! Das wäre denn für diese Welt – und für diese Welt Sünde, daß ich dich liebe, daß ich dich aus seinen Armen in die meinigen reißen möchte? Sünde? Gut, und ich strafe mich dafür; ich habe sie in ihrer ganzen Himmelswonne geschmeckt, diese Sünde, habe Lebensbalsam und Kraft in mein Herz gesaugt. Du bist von diesem Augenblicke mein! mein, o Lotte! Ich gehe voran! gehe zu meinem Vater, zu deinem Vater. Dem will ich’s klagen, und er wird mich trösten, bis du kommst, und ich fliege dir entgegen und fasse dich und bleibe bei dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen.
  • Lotte hat nach dem Kussüberfall verständlicherweise ein Problem, das ihrem Mann zu sagen
    • EB145:
      Ihr sonst so rein und leicht fließendes Blut war in einer fieberhaften Empörung, tausenderlei Empfindungen zerrütteten das schöne Herz. War es das Feuer von Werthers Umarmungen, das sie in ihrem Busen fühlte? War es Unwille über seine Verwegenheit? War es eine unmutige Vergleichung ihres gegenwärtigen Zustandes mit jenen Tagen ganz unbefangener, freier Unschuld und sorglosen Zutrauens an sich selbst? Wie sollte sie ihrem Manne entgegengehen, wie ihm eine Szene bekennen, die sie so gut gestehen durfte, und die sie sich doch zu gestehen nicht getraute? […]
    • Eins und das andre machte ihr Sorgen und setzte sie in Verlegenheit; und immer kehrten ihre Gedanken wieder zu Werthern, der für sie verloren war, den sie nicht lassen konnte, den sie – leider! – sich selbst überlassen mußte, und dem, wenn er sie verloren hatte, nichts mehr übrig blieb.
  • Interessant, wenn auch wenig überzeugend, sind dann die Überlegungen des Herausgebers:
    • EB146
      Wie schwer lag jetzt, was sie sich in dem Augenblick nicht deutlich machen konnte, die Stockung auf ihr, die sich unter ihnen festgesetzt hatte! So verständige, so gute Menschen fingen wegen gewisser heimlicher Verschiedenheiten unter einander zu schweigen an, jedes dachte seinem Recht und dem Unrechte des andern nach, und die Verhältnisse verwickelten und verhetzten sich dergestalt, daß es unmöglich ward, den Knoten eben in dem kritischen Momente, von dem alles abhing, zu lösen. Hätte eine glückliche Vertraulichkeit sie früher wieder einander näher gebracht, wäre Liebe und Nachsicht wechselsweise unter ihnen lebendig worden und hätte ihre Herzen aufgeschlossen, vielleicht wäre unser Freund noch zu retten gewesen.“
  • Deutlich wird, wie viel Verwirrung Werther in die Beziehung von Lotte und Albert gebracht hat. Sie schafft es nicht, offen ihm gegenüber zu sein und
    • EB147: es ward immer dunkler in Lottens Gemüt. Sie fühlte, wie schwer es ihr werden würde, ihrem Mann, auch wenn er bei dem besten Humor wäre, das zu entdecken, was ihr auf dem Herzen lag; sie verfiel in eine Wehmut, die ihr um desto ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen und ihre Tränen zu verschlucken suchte.“
  • Als dann ein Diener Werthers kommt, der die Pistolen gerne haben möchte und auch bekommt, kann Lotte sich auch nicht entscheiden:
    • EB149
      Bald war sie im Begriffe, sich zu den Füßen ihres Mannes zu werfen, ihm alles zu entdecken, die Geschichte des gestrigen Abends, ihre Schuld und ihre Ahnungen. Dann sah sie wieder keinen Ausgang des Unternehmens, am wenigsten konnte sie hoffen, ihren Mann zu einem Gange nach Werthern zu bereden.
  • Und so kommt es denn zu dem hier anscheinend einzig möglichen Ende. Werther kann nicht anders, als beim Empfang der Pistolen festzustellen:
    • EB149
    • »Sie sind durch deine Hände gegangen, du hast den Staub davon geputzt, ich küsse sie tausendmal, du hast sie berührt!
    • Und du, Geist des Himmels, begünstigst meinen Entschluß, und du, Lotte, reichst mir das Werkzeug, du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte, und ach! nun empfange.
    • O ich habe meinen Jungen ausgefragt. Du zittertest, als du sie ihm reichtest, du sagtest kein Lebewohl! – Wehe! wehe! kein Lebewohl! – Solltest du dein Herz für mich verschlossen haben, um des Augenblicks willen, der mich ewig an dich befestigte?
    • Lotte, kein Jahrtausend vermag den Eindruck auszulöschen! und ich fühle es, du kannst den nicht hassen, der so für dich glüht.«
  • Dann ist es endlich so weit – und der Leser wird von diesem Schicksal erlöst. Werther erschießt sich wirklich. Goethe beschreibt den anschließenden Todeskampf recht realistisch. Was die Reaktion der Leute angeht:
    • EB153
      Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer laßt mich nichts sagen.
    • Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingesprengt, er küßte den Sterbenden unter den heißesten Tränen.
    • Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße, sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten Schmerzens, küßten ihm die Hände und den Mund, und der älteste, den er immer am meisten geliebt, hing an seinen Lippen, bis er verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriß.
    • Um zwölfe mittags starb er.
    • Die Gegenwart des Amtmannes und seine Anstalten tuschten einen Auflauf.
    • Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der Leiche und die Söhne,
    • Albert vermocht’s nicht.
    • Man fürchtete für Lottens Leben.
    • Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.

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