Beispiel für eine Glosse: Grenzen von Nathans „Weisheit“ in Lessings Drama (Mat2230)

Worum es hier geht:

Präsentiert wird eine sogenannte „Glosse“ – ein subjektiver und meist ins Witzige gehender Meinungsartikel in einer Zeitung oder heute auch in einem anderen Medium.
Näheres dazu ist hier zu finden:
https://schnell-durchblicken.de/ki-mia-baustein-glosse-was-ist-das-wie-schreibt-man-so-etwas

Kurzer Überblick, worum es inhaltlich geht:
  1. Nathans fragwürdige Bildungsmethode:
    Das Problem ist, dass Nathan seiner Pflegetochter Recha das Lesen nicht beigebracht und sie stattdessen nur durch mündliche Überlieferung unterrichtet hat.
  2. Widerspruch zur Aufklärung:
    Nathans Ablehnung von „Buchgelehrsamkeit“ steht im Gegensatz zu den Idealen der Aufklärung steht, die alle Informationsquellen nutzen sollte.
  3. Manipulativer Aspekt:
    Das bedeutet, dass Nathans Erziehungsmethode manipulativ sein könnte, da Recha völlig von seinen Lehren abhängig ist und keine eigenen Informationsquellen hat.
  4. Zweifel an Nathans Weisheit:
    Damit ergibt sich die Frage, inwieweit Nathans Weisheit tatsächlich fundiert ist, wenn sie nur aus seinem eigenen Inneren kommt und nicht durch externes Wissen ergänzt wird.
  5. Rechas mangelnde Selbstständigkeit:
    Letztlich läuft es auf die Frage hinaus, ob Recha über das hinausgewachsen ist, was Nathan ihr beigebracht hat, und ob sie in der Lage ist, eigenständig zu denken und zu handeln..
Kommentar: Nathan und die „kalte Buchgelehrsamkeit“

Wir zeigen, wie man das Problem in einer Art geistreichen Statements darstellen kann – so könnte es in einem Kommentar oder einer „Glosse“ formuliert werden.

  1. Da liest man mal wieder Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“ – und dann stolpert man über eine Stelle und ist erstaunt: Der gute „Nathan“ verstößt gegen seine eigenen Prinzipien und ganz nebenbei auch noch gegen alles, was die Aufklärung wollte. Aber schauen wir uns das mal genauer an:
  2. Sicher, Nathan hat viel von einem guten Menschen. Aber keiner ist nur gut.
  3. Und an einer Stelle wird es fast ein bisschen peinlich für diesen Muster-Aufklärer.
  4. Da unterhalten sich Sittah und Recha zum ersten Mal im 6. Auftritt des V. Aktes – und die Schwester des Sultans macht erst ein bisschen Smalltalk und fragt halt mal nach den gelesenen Büchern.
  5. Und dann kommt eine eigentlich ungeheuerliche Antwort: „Ich kann kaum lesen.“
  6. Und dann wird sie noch genauer: „Nun, Bücher wird mir wahrlich schwer zu lesen! „
  7. Es folgt eine nun wirklich seltsame These für einen „weisen“ Mann:
    „In ganzem Ernst. Mein Vater liebt / Die kalte Buchgelehrsamkeit, die sich / Mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt, / Zu wenig.“
  8. Da denkt man doch: Wie bitte? Besteht nicht Aufklärung gerade darin, dass man alle Informationsquellen benutzt.
  9. Und dieser Nathan will das nicht?! Zeigt seiner Pflegetochter nicht mal diesen Weg, sich zu bilden.
  10. Aber dann kommt es noch schärfer: Sittah ist sicher erstaunt, will aber auch höflich bleiben und stimmt zumindest teilweise zu: „Ei, was sagst du! – Hat indes / Wohl nicht sehr Unrecht! – Und so manches, was / Du weißt …?“
  11. Und Recha ergänzt das dann schön lammfromm und tochtergläubig: „Weiß ich allein aus seinem Munde. / Und könnte bei dem meisten dir noch sagen, / Wie? wo? warum? er michs gelehrt.“
  12. Das heißt doch: Diese junge und inzwischen wohl erwachsene Frau hängt den ganzen Tag an den Lippen des alten Herrn und der freut sich nur darüber, statt Recha nur Tipps und Anregungen zu geben und sich ansonsten auch über das zu freuen, was von ihr vielleicht kommt.
  13. Es hat etwas Manipulatives, was Nathan da macht. Und man müsste genau hinschauen, an welchen Stellen er die gleiche Methode anwendet und was dann von seiner Weisheit übrigbleiben – wohl eine, dir nur aus dem eigenen Inneren kommt. Das ist sicher nicht schlecht – und es gibt sicher Weise in der Welt, die wenig oder gar nichts gelesen haben und trotzdem der Welt und den Mitmenschen etwas an Einsichten und Ratschlägen weitergeben können – man denke an die indigenen Naturvölker.
  14. Aber im Kontext der Aufklärung ist das nicht nur armselig, es ist ein Verbrechen an einer Schutzbefohlenen.
  15. Halten wir Lessing zugute, dass er das, was er da geschrieben hat, einfach nur für diesen Kontext geschrieben hat und nicht wirklich und ganz ernstgenommen hat. Aber das Gute an dieser extremen Textstelle ist, dass auf die „Weisheit“ dieses Menschen doch auch ein bisschen Zwielicht fällt – so nach dem Motto: Ich habe alles an Familie verloren (wofür man ihn nur bemitleiden kann), jetzt muss ich mich ganz eng an den Menschen halten, der mir dafür gegeben wurde – auch wenn das auf Abhängigkeit hinausläuft.
  16. Damit wären wir bei der abschließenden Frage: Inwieweit zeigt diese Recha, dass sie über das, was ihr nur ein Mensch sagt, hinausgewachsen ist. Am Anfang des Stücks geht ihre geistige Selbstständigkeit ja wohl eher in die falsche Richtung, wenn sie sich nur mit Mühe von Nathan belehren lässt (übrigens auch mit einem Trick), dass ihr Retter kein Engel gewesen ist.
  17. Langer Rede kurzer Sinn: Auch Klassiker und ihre Werke haben Momente des Schwachen. Und wie hat Lessing doch in dem Gedicht „An den Herrn Marpurg“ doch so schön gesagt, dass be ieinem echten Genie sogar die Fehler schön seien. Dem ist nichts hinzuzufügen 🙂
    https://schnell-durchblicken.de/muendliche-abiturpruefung-thema-lessing-zwischen-aufklaerung-und-sturm-und-drang-lessing-marpurg

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