Worum es hier geht:
Im Deutschunterricht werden großartige Werke präsentiert. Das erkennt man zumindest, wenn man sie aufmerksam liest und die richtigen Hilfen bekommt.
Was zu kurz kommt, ist die Bereitschaft, auch große Dichter und Dichterinnen als Menschen zu betrachten, die an der einen oder anderen Stelle durchaus mal Fragwürdiges präsentieren können.
Beispiel: Im Drama „Draußen vor der Tür“ geht es um den Heimkehrer Beckmann, der nirgendwo ankommt. Ihm hat Borchert als Verfasser eine Art positives Gegen-Ich mitgegeben, das immer wieder auffordert, es noch mal zu versuchen.
In der letzten Szene geschieht das allerdings auf eine sehr fragwürdige, wenn nicht geradezu dümmliche Weise, wie wir gleich zeigen werden.
Das ist dramaturgisch durchaus sinnvoll, denn anschließend sollen ja alle Negativ-Erfahrungen in einem Traum noch einmal aufmarschieren und ein Anti-Happy-End verdeutlichen.
Aber wenn man sich die folgende Stelle ansieht, sieht man, dass das kaum „stimmig“ ist. Jemand, der zwischen Verzweiflung und Rest-Hoffnung schwankt, wird sich zumindest nicht selbst als Lügner beschimpfen, sondern höchstens versuchen, negative Erfahrungen zu relativieren oder sich etwas schön zu reden.
Wir haben das weiter unten mal probiert und können das nur als eine weitere Möglichkeit eines guten Deutschunterrichts empfehlen.
Man muss nicht so gut sein wie der Dichter, um zumindest einige Stellen anders oder weiter zu denken.
Auch das gehört zur Kunst, die ja bekanntlich erst in den Augen des Betrachters zu etwas Ganzem wird.
Die fragwürdige Stelle im Original
Der Andere: Beckmann, Beckmann, du mußt leben. Alles lebt. Neben dir. Links, rechts, vor dir: die andern. Und du? Wo bist du? Lebe, Beckmann, alles lebt!
Beckmann: Die andern? Wer ist das? Der Oberst? Der Direktor? Frau Kramer? Leben mit ihnen? Oh, ich bin so schön tot. Die andern sind weit weg, und ich will sie nie wiedersehen. Die andern sind Mörder.
Der Andere: Beckmann, du lügst.
Beckmann: Ich lüge? Sind sie nicht schlecht? Sind sie gut?
Der Andere: Du kennst die Menschen nicht. Sie sind gut.
Beckmann: Oh, sie sind gut. Und in aller Güte haben sie mich umgebracht. Totgelacht. Vor die Tür gesetzt. Davongejagt. In aller Menschengüte. Sie sind stur bis tief in ihre Träume hinein. Bis in den tiefsten Schlaf stur. Und sie gehen an meiner Leiche vorbei – stur bis in den Schlaf. Sie lachen und kauen und singen und schlafen und verdauen an meiner Leiche vorbei. Mein Tod ist nichts.
Der Andere: Du lügst, Beckmann!
Beckmann: Doch, Jasager, die Leute gehen an meiner Leiche vorbei. Leichen sind langweilig und unangenehm.
Der Andere: Die Menschen gehen nicht an deinem Tod vorbei, Beckmann. Die Menschen haben ein Herz. Die Menschen trauern um deinen Tod, Beckmann, und deine Leiche liegt ihnen nachts noch lange im Wege, wenn sie einschlafen wollen. Sie gehen nicht vorbei.
Beckmann: Doch, Jasager, das tun sie. Leichen sind häßlich und unangenehm. Sie gehen einfach und schnell vorbei und halten die Nase und Augen zu.
Der Andere: Das tun sie nicht! Ihr Herz zieht sich zusammen bei jedem Toten!
Nachlesen kann man die Stelle im Zusammenhang hier:
https://www.projekt-gutenberg.org/borchert/draussen/chap005.html
Versuch einer stimmigeren Variante
Der Andere: Beckmann, Beckmann, du musst leben. Erinnerst du dich an Paul an der Front? Wie er dir den Mantel gab, als du fast erfroren bist? Es gibt noch Menschen wie ihn.
Beckmann: Menschen wie er? Wo sind sie denn jetzt?
Der Andere: Erinnerst du dich denn gar nicht an die letzte Nacht, wo du unter der Brücke von anderen Heimkehrern aufgenommen wurdest?
Beckmann: Bleib mal bei der Wahrheit – ich durfte aus der Schnapsflasche mittrinken – mehr gab es nicht an Gemeinsamkeit.
Der Andere: Immerhin.
Beckmann: Schnaps bekam ich auch beim Oberst – das war und ist keine Lösung.
Der Andere: Aber er schafft zumindest Entspannung.
Beckmann: Wieder nur die halbe Wahrheit. Als ich weiterging und auf die Uhr schauen wollte, war sie weg. Das ist die Solidarität derer, die gemeinsam draußen vor den Türen liegen.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Infos, Tipps und Materialien zu Wolfgang Borchert und seinem Werk – Übersicht
https://schnell-durchblicken.de/wolfgang-borchert-infos-tipps-und-materialien-leben-und-werk-themenseite
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