Quick-Guide: Kapitel „Das Mädchen“
- Quelle:
- Ebook-Kindle: S. 68-79
- Audible-Hörbuch: Beginn Kapitel 26, Minute 1:45
– Heimsuchung: Roman von Jenny Erpenbeck
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Worum es uns geht:
- Mit diesen wichtigsten Infos und Zitaten hat man schnell einen Überblick über das Kapitel.
- Wir haben es sorgfältig gelesen und uns jede Menge Notizen gemacht.
- Hier nun eine erste Übersicht.
- Das Kapitel „Das Mädchen“ aus dem Roman Heimsuchung von Jenny Erpenbeck beschreibt die erschütternde Geschichte eines zwölfjährigen Mädchens namens Doris.
- Es hat sich vor dem Abtransport ins Ghetto in einer engen Kammer versteckt.
- Was sie fühlt und was sie denkt, wird dem Leser in diesem Kapitel verdeutlicht. Es sind vor allem Erinnerungen und auch Überlegungen im Hinblick auf die Zukunft.
- Am Ende wird – typisch für diesen Roman – ihr Schicksal ganz sachlich-distanziert beschrieben.
- Wer dem Mädchen in seinem Schicksal gefolgt ist und das ganze Kapitel mitgefühlt hat, der wird regelrecht erschüttert. Vor allem, wenn am Schluss einiges aufgezählt wird, was dieses Mädchen sich gewissermaßen vergeblich an Kenntnissen und Fähigkeiten erworben hat – und das nur, weil es mitten in Europa in die Hände eines tödlich rassistischen Regimes geraten ist.
Situation des Mädchens:
Zu Beginn wird die bedrückende Lage von Doris geschildert, die sich in einer engen und unbequemen Kammer versteckt hält. Diese Situation führt zu einer tiefen Identitätskrise, in der sich das Mädchen fragt, wer sie überhaupt noch ist
Zitat EB68 (Original in Kursivschrift, unsere Anmerkungen eingerückt in blau)
- Jetzt weiß niemand mehr, daß sie da ist. Rings um sie ist alles schwarz, und der Kern dieser schwarzen Kammer ist sie. Daß es nicht einmal einen kleinen Spalt gibt, durch den Licht einfällt, soll ihr das Leben retten, aber es macht auch, daß sie sich in nichts mehr von der Dunkelheit unterscheidet.
- Hier wird sehr schön deutlich, wie viel das Mädchen auf sich nehmen muss, um ihr Leben erst mal zu retten.
- Sie würde gern irgendeinen Beweis dafür haben, daß sie da ist, aber es gibt keinen Beweis. Sie Doris Tochter von Ernst und Elisabeth zwölf Jahre alt geboren in Guben. Wem gehören jetzt noch, in solcher Dunkelheit, diese Worte?
- Hier wird deutlich, wie sehr dieses Mädchen mit seinen 12 Jahren hier aus der Bahn geworden worden ist.
- Während sie auf der kleinen Kiste sitzt, und ihre Knie an die gegenüberliegende Wand stoßen, und sie ihre Beine manchmal nach rechts, manchmal nach links schräg stellt, damit sie nicht einschlafen, vergeht Zeit. Wahrscheinlich vergeht Zeit. Zeit, die sie wahrscheinlich immer weiter und weiter entfernt von dem Mädchen, das sie vielleicht einmal war:
- Zum einen wird hier deutlich, was sich da auf Dauer für eine körperliche Qual entwickelt.
- Zum anderen wird wieder einmal in dem Roman deutlich gemacht, was für eine „Heimsuchung“ die Zeit sein kann.
Erinnerungen und Fantasien:
Doris erinnert sich an eine Episode mit ihrem Onkel Ludwig, in der sie auf einen Baum gehoben wurde, um den See zu überblicken. Diese Erinnerung verbindet sie mit fantasievollen Vorstellungen über ein versunkenes Dorf.
Zitat EB69: (Original in Kursivschrift, unsere Anmerkungen eingerückt in blau)
- Als der Onkel sie damals auf den Buckel der Kiefer hinaufhob, war ihr, als könne sie von so hoch oben tatsächlich all die unterseeischen Berge im Wasser erkennen, deren Namen ihr der Gärtner gesagt, und die sie sich bis heute gemerkt hat.
- Hier zeigt sich, über wieviel Fantasie dieses Mädchen verfügt und wie sehr es ihr hilft, in dieser Kammer erst mal zu überleben.
- Auf der höchsten Erhebung stand der Kirchturm der versunkenen Stadt, seine Spitze ragte hoch auf, stieß mit dem Wetterhahn beinahe bis hinauf in die Wellen.
- Und unten am Grund, wo das Wasser ganz ruhig war, auf den Straßen und Plätzen der Stadt, konnte sie, wenn sie die Augen zusammenkniff, sogar die Menschen erkennen, sie gingen umher, saßen oder standen irgendwo angelehnt, durch die glitzernde Oberfläche des Sees hindurch sah sie das stumme Gedränge all der gemeinsam mit ihrer Stadt versunkenen Bewohner, die sich, ohne atmen zu müssen, ganz natürlich im Wasser bewegten, im ewigen Leben nicht anders gingen, saßen oder standen als zuvor auf der Erde.
- Man merkt hier, wie sehr die Fantasie über die Realität hinausgeht.
- Auf der Kiefer hatte sie gehockt, sich an ihrem schuppigen Stamm festgehalten, und von dort aus gesehen, wie die Fische im versunkenen Himmel über der Stadt umherschwammen.
Weitere Erinnerungen an die bunten Farben der Vergangenheit stehen im Kontrast zur Dunkelheit der Kammer
Leben im Ghetto:
Das Kapitel beschreibt die Situation der Menschen im Ghetto, die abtransportiert werden, und das Bewusstsein des Übergangs zwischen Leben und Tod. Erinnerungen an die Hoffnung, bei Verwandten in Südafrika Zuflucht zu finden, werden aufgezeigt
Verlust und Abschied:
Doris reflektiert über den Verkauf des Grundstücks und die antisemitischen Hänseleien, die sie erlebte. Sie erinnert sich an die Briefe, die sie regelmäßig an ihre Eltern schrieb, und an das letzte gemeinsame Essen mit den Großeltern vor deren Abtransport
Symbolik und Reflexionen:
Die Erzählung enthält symbolische Elemente wie das „Teppich der Erinnerung“ und die Bedeutung des Grundstücks am See. Diese Symbole verdeutlichen die emotionale Bindung des Mädchens an ihre Vergangenheit und ihre Familie
Aussagen und Themen
- Identität und Verlust:
Das Kapitel thematisiert die Suche nach Identität inmitten von Verlust und Verzweiflung. Doris‘ Gedanken kreisen um die Frage, ob sie mit zwölf Jahren bereits den größten Teil ihres Lebens hinter sich hat - Erinnerung und Hoffnung:
Erinnerungen an eine bessere Vergangenheit und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft spielen eine zentrale Rolle. Diese Erinnerungen bieten einen Kontrast zur gegenwärtigen Dunkelheit und Verzweiflung
— - Erzählerische Technik:
Die Erzähltechnik zeichnet sich durch eine enge personale Annäherung an die Gedanken und Gefühle des Mädchens aus, kombiniert mit einer zurückhaltenden, aber klaren Kommentierung durch die Erzählerinstanz
Zusammenfassung
Das Kapitel „Das Mädchen“ ist ein eindringliches Porträt eines jungen Mädchens, das mit den Schrecken der nationalsozialistischen Judenverfolgung konfrontiert wird. Es ist ein kraftvolles Beispiel für die Art und Weise, wie Erpenbeck persönliche Geschichten nutzt, um universelle Themen von Verlust, Erinnerung und Identität zu erforschen.
Kritik und Kreativität
- Zunächst einmal muss man feststellen, dass es der Autorin gelungen ist, sich sehr gut in die Situation des Mädchens zu versetzen.
- Man schaue sich nur mal dieses Zitat an (EB68)
„Farbig ist nur noch das, woran sie sich erinnert, mitten in dieser Dunkelheit, die sie umgibt, deren Kern sie ist, farbige Erinnerungen hat sie in ihrem vom Licht vergessenen Kopf, Erinnerungen von jemand, der sie einmal war. Wahrscheinlich war.“ - Es ist eher unwahrscheinlich, dass das die Gedanken des 12jährigen Mädchens sind – erzähltechnisch ist das ein Sich-hinein-Versetzen der Erzählinstanz, die mit eigenen Gedanken deutlich machen will, wie es diesem Kind dort in der Enge und der Dunkelheit geht.
- Zu den Erinnerungen kommt die Fantasie: Denn wer wenig real sehen kann, muss gewissermaßen mit einem inneren Auge sehen. Besonders deutlich wird das auf EB69:
„Und unten am Grund, wo das Wasser ganz ruhig war, auf den Straßen und Plätzen der Stadt, konnte sie, wenn sie die Augen zusammenkniff, sogar die Menschen erkennen, sie gingen umher, saßen oder standen irgendwo angelehnt, durch die glitzernde Oberfläche des Sees hindurch sah sie das stumme Gedränge all der gemeinsam mit ihrer Stadt versunkenen Bewohner, die sich, ohne atmen zu müssen, ganz natürlich im Wasser bewegten, im ewigen Leben nicht anders gingen, saßen oder standen als zuvor auf der Erde.“ - Wenn man weiß, dass hinter diesem Mädchen ein realer historischer Mensch steckt, wird dieser Teil des Romans aber sehr fragwürdig. Die Autorin hat nichts gewusst von dem realen Schicksal des Mädchens, da wäre es angemessener gewesen, ganz offen einen Erzählansatz zu wählen, in dem man sich selbst in die Situation hineinversetzt.
- Ansonsten ist es sehr schade, dass die Autorin sich auf die Situation im Ghetto und besonders in diesem Versteck konzentriert hat, wovon sie persönlich glücklicherweise keine Erinnerungen hat. Stattdessen hätte sie lieber für uns die Briefe auswerten sollen, die das Mädchen real an seine Eltern – immer sonntags, wie es im Roman heißt – geschrieben hat.
- Also auf den Punkt gebracht: Wenn ein Autor sich in eine reale historische Person hineinversetzt und hineinfühlt, dann sollte er das sichtbar machen – dann wäre auch die folgende Passage eine völlig legitimierte eigene Hineinversetzungs-Fantasie gewesen – und es wäre nicht einer historischen Person zugeschrieben worden, die sich nicht mehr wehren kann.
„Als das Werterfassungskommando unter Leitung eines deutschen Soldaten die Wohnung übernimmt, hat das Rinnsal auf dem Küchenfußboden einen kleinen See gebildet.“ (EB77) - Ansonsten ist es sicher eine gute kreative Übung, sich selbst mal in eine Person zu versetzen, die etwas Extremes erlebt hat. Die Nachrichten sind ja voll davon.
Dann versucht man tatsächlich mal, sich auszumalen, wie es einem dabei gehen würde.- Beispiel: Jemand ist auf einem Surfbrett hinausgetrieben worden und hatte Glück, dass ein Fischerkahn sich verspätet hatte.
- Oder jemand hat eine Bergwanderung gemacht und es nicht mehr rechtzeitig nach Hause geschafft. Glücklicherweise ist es Sommer – Überleben kein Problem – aber die lange Nacht – und kein Handy-Empfang.
- usw.
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Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Infos, Tipps und Materialien zum Roman „Heimsuchung“ von Jenny Erpenbeck
https://schnell-durchblicken.de/themenseite-heimsuchung
— - Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos
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