Quick Guide: Roman „Heimsuchung“: Kapitel „Das Mädchen“ (Mat8630-qc-mädchen)

Quick-Guide: Kapitel „Das Mädchen“

Worum es uns geht:

  • Mit diesen wichtigsten Infos und Zitaten hat man schnell einen Überblick über das Kapitel.
  • Wir haben es sorgfältig gelesen und uns jede Menge Notizen gemacht.
  • Hier nun eine erste Übersicht.
    • Das Kapitel „Das Mädchen“ aus dem Roman Heimsuchung von Jenny Erpenbeck beschreibt die erschütternde Geschichte eines zwölfjährigen Mädchens namens Doris.
    • Es hat sich vor dem Abtransport ins Ghetto in einer engen Kammer versteckt.
    • Was sie fühlt und was sie denkt, wird dem Leser in diesem Kapitel verdeutlicht. Es sind vor allem Erinnerungen und auch Überlegungen im Hinblick auf die Zukunft.
    • Am Ende wird – typisch für diesen Roman – ihr Schicksal ganz sachlich-distanziert beschrieben.
    • Wer dem Mädchen in seinem Schicksal gefolgt ist und das ganze Kapitel mitgefühlt hat, der wird regelrecht erschüttert. Vor allem, wenn am Schluss einiges aufgezählt wird, was dieses Mädchen sich gewissermaßen vergeblich an Kenntnissen und Fähigkeiten erworben hat – und das nur, weil es mitten in Europa in die Hände eines tödlich rassistischen Regimes geraten ist.

Zu den einzelnen Abschnitten

Zunächst eine Überschrift, dann der Anfang des Abschnitts, dann der Inhalt mit Überlegungen zur Bedeutung.

  1. Isolation und Identitätsverlust

Jetzt weiß niemand mehr, daß sie da ist.

Dieser Abschnitt beschreibt Doris‘ unmittelbare Situation in der Dunkelheit ihrer kleinen Kammer, dem Kern der Schwärze. Sie sitzt auf einer kleinen Kiste, die Knie stoßen an die Wand, und sie versucht, ihre Beine zu bewegen, damit sie nicht einschlafen. Die Dunkelheit ist so absolut, dass sie sich nicht mehr von ihr unterscheidet und vergeblich nach einem Beweis ihrer Existenz sucht. Ihre Identitätsmerkmale – „Sie Doris Tochter von Ernst und Elisabeth zwölf Jahre alt geboren in Guben“ – scheinen herrenlos geworden zu sein, da die Zeit sie von allem Menschlichen fortgerissen und in diese dunkle Kammer gesperrt hat.

  1. Farbige Erinnerungen an die versunkene Welt

Wer war sie? Wessen Kopf war ihr Kopf? Wem gehörten jetzt ihre Erinnerungen?

Aus der Dunkelheit steigen farbige Erinnerungen auf, die zu jemandem gehören, der sie vielleicht einmal war. Die Zeit läuft unaufhörlich weiter und reißt selbst ein „versteinertes Kind“ mit sich fort. Es folgen detaillierte und poetische Erinnerungen an die „unterseeischen Berge“ im Wasser, deren Namen (Gurkenberg, Schwarzes Horn, Mindachs Berg) ihr der Gärtner genannt hatte. Sie erinnert sich, wie sie auf einer Kiefer hockte und von dort aus die versunkene Stadt auf dem Grund des Sees sehen konnte, wo die Bewohner sich „ganz natürlich im Wasser bewegten“. Weitere Erinnerungen umfassen sensorische Eindrücke: die klebrigen Hände vom Harz, die abgerieben wurden, die Farben von Wolken, Himmel, Blättern, Sand und Wasser, und das Segeln mit dem Großvater, dessen Jolle nun seit vier Jahren im Winterquartier steht.

  1. Die absolute Stille und der bevorstehende Übergang

Sämtliche Fenster des Hauses in der Nowolipiestraße, wo das Mädchen sich versteckt hält, stehen noch immer weit offen,

Die Nowolipiestraße, das ganze Haus und das gesamte Viertel sind jetzt vollkommen still. Während Doris in ihrer Kammer sitzt, hört sie in der Stille alles, was es einmal gab: Rauschen von Blättern, Plätschern von Wellen, das Hupen des Dampfers, Handwerker und das Knattern eines Segels. Die Stille wird mit der Musiktheorie von Onkel Ludwig verglichen: „Von C-Dur entfernt man sich über G-Dur, D-Dur, A-Dur, E-Dur, H-Dur bis hin zu Fis-Dur Kreuz für Kreuz immer weiter. Aber von Fis wieder hin zu C ist es nur ein ganz kleiner Schritt.“. Doris erkennt, dass ihr nun ein „kleiner Übergang“ bevorsteht: entweder verhungern oder gefunden und abtransportiert werden. „Niemand von denen, die wußten, wer sie war, weiß mehr, daß sie da ist. Das macht den Übergang so gering.“

  1. Der Weg zum Ende

Schritt für Schritt ist sie bis hierher gelangt, bis beinahe zum Ende,

Doris denkt über den Anfang dieses Weges nach und fragt sich, ob das Leben damals, als sie half, die Weide zu pflanzen, noch heil war. Sie erinnert sich an Onkel Ludwig mit dem Spaten und an dessen Verlobte Anna, die sagte: „Mach dich leicht!“. Der Abschnitt schildert die chronologischen Schritte der Verdrängung und Verfolgung: Die Großeltern wurden abtransportiert. Sie wurde nach Berlin zu einer Tante geschickt, um Hänseleien wegen ihres jüdischen Blutes zu entgehen. Sie schrieb sonntags Briefe an ihre Eltern. Sie erinnert sich an das letzte gemeinsame Essen (Paprikaschoten) mit den Großeltern und an Geschenke wie ein Schälchen mit Watte und Linsen, aus denen ein kleiner Wald wuchs. Um sich für das kalte Polen abzuhärten, ging sie bei zwölf Grad Minus mit Halbschuhen zur Schule. Sie durfte nicht zur Beerdigung ihres Vaters fahren, da das Gesetz zu spät kam. Der See lag genau auf halber Strecke zwischen Berlin und Guben, was die Frage aufwirft, wie weit sie bereits von ihrem Leben entfernt war.

  1. Körperliche Realität und das schrumpfende Ghetto

Jetzt muß sie pinkeln, aber sie darf nicht aus der Kammer hinausgehen, das hat die Mutter, bevor sie zur Arbeit ging, zu ihr gesagt.

Doris muss urinieren, aber die Mutter, die ihr das Pinkeln verboten hat, wird nicht mehr kommen, da alle Bewohner des Hauses und des Viertels fort sind. Trotzdem hält der Satz, der ihre Identität festlegt („Doris Tochter von Ernst und Elisabeth zwölf Jahre alt geboren in Guben“), noch. Sie uriniert vorsichtig, um das Brett nicht nass zu machen. Der Abschnitt listet die Straßen des Ghettos auf (Sienna, Panska, Twarda, Nowolipie etc.). Die Welt ist immer kleiner geworden; man hatte ihr immer mehr Gepäck abgenommen, als wolle man sie „durch die Erleichterung ins Alter hineinzwängen“. Die Mutter betrat das Ghetto nur mit zwei Wolldecken, Proviant für fünf Tage, einer Armbanduhr und ohne Dokumente. Die Welt war so geschrumpft, dass sie ein Kind leicht zu Fuß erreichen konnte. Im Versteck ist Doris ein „wildes Kind“ – wild, weil sie nicht spricht, nicht singt, sich totstellt und überleben will. „Niemals in ihrem Leben ist sie wilder gewesen, als in dieser winzigen Kammer, in der sie nicht spricht, nicht singt, nicht aufstehen kann und, wenn sie sitzt, mit den Knien gegen die Wand stößt.“.

  1. Die verlorene Hoffnung auf Brasilien

Gibt es in Brasilien auch Seen?

Doris erinnert sich an die Pläne für Brasilien, wo sie einen Sonnenhut brauchen würde. Ihr Vater hatte gesagt, das Klavier passe nicht mehr in den Container, in dem ihr Bett und ihre Bücher verstaut waren. Dieser Container, der auf dem Hof einer Gubener Spedition stand, war die Verpackung ihres Alltags. Die Hoffnung auf Ausreise hielt an, selbst als der Vater zur Zwangsarbeit einberufen wurde. Erst der Tod des Vaters zeigte, dass die Verpackung ihres Alltags in das Dunkle eine „Vorwegnahme ihrer eigenen Verpackung und beides zusammengenommen etwas Endgültiges war“.

  1. Das Grundstück als Anker und die Auktion

Der einzige Ort, der seit damals sich ähnlich geblieben sein wird, und über den das Mädchen sogar von hier aus, von ihrer dunklen Kammer aus, noch immer sagen könnte, wie er zur Stunde aussieht, ist das Grundstück von Onkel Ludwig.

Das Grundstück von Onkel Ludwig ist der einzige Ort, der unverändert geblieben zu sein scheint und den sie noch aus der Ferne kennt. „Und so lange sie noch irgend etwas auf dieser Welt kennt, ist sie noch nicht in der Fremde.“. Parallel zu einem Tag im Juni, an dem Doris auf der Karmelickastraße den Roman „Sankt Gunther oder Heimatlos“ liest, während ihre Mutter die Armbanduhr auf dem Schwarzmarkt verkauft, wird in Guben ihr gesamter Hausrat versteigert. Der Hausrat wird in umgekehrter Reihenfolge aus den Containern geholt. An diesem Tag wird ihr Kinderbett (Nr. 48) für 20,- Mk. verkauft, ihre Kakaokanne (Nr. 119) und die Ziehharmonika des Vaters (Nr. 133). Am Abend dieses längsten Tages des Jahres 1942, an dem Verwesungsgeruch aufstieg und sie in Schlangenlinien heimging, um nicht über Leichen zu stolpern, ruhten die Bettlaken der Familie bereits „glattgestrichen in den Wäscheschränken“ verschiedener anderer Familien.

  1. Zweifel an der Erinnerung und die Entdeckung

So dunkel, wie es hier ist, war es wahrscheinlich auch damals unter dem Boot, das kurz vor dem Ufer kenterte, als der Junge aus dem Dorf es zum Steg hinsegeln wollte.

Doris denkt an die Erinnerung an das gekenterte Boot, den Jungen aus dem Dorf, und das Gefühl, dass das Wasser sie beim Schwimmen trug. Sie beginnt, die Realität ihrer Erinnerungen in Frage zu stellen: „War dieser Junge noch da, wenn sie ihn nicht sah? War außer ihr noch irgendwer auf der Welt?“. Ihr wird schlagartig klar: „Wenn niemand mehr weiß, daß sie da ist, wenn sie nicht mehr da ist, wer weiß dann von der Welt?“. Sie bemerkt nicht, dass der Boden ihres Verstecks uneben ist, und das Rinnsal ihres Urins schlängelt sich unter der Tür hindurch in die verlassene Küche. Dieses Rinnsal bildet einen kleinen See, als das „Werterfassungskommando“ unter Leitung eines deutschen Soldaten die Wohnung übernimmt.

  1. Der letzte Weg und das Ende

Zum letzten Mal muß sie jetzt die Zamenhofa entlang nordwärts gehen, die Sonne im Rücken.

Doris geht ihren letzten Weg, zusammen mit anderen, die sie nicht kennt; „jetzt gehen alle endlich für immer heim“. Sie erkennt, wie klein das Ghetto war, da sie die Straßen beim Namen nennen könnte. Eine Erinnerung an Max Schmeling, der einen Baumstamm trug, schiebt sich dazwischen. Während der zweistündigen Fahrt im Waggon ersticken ungefähr dreißig der hundertzwanzig Menschen. Da sie ein elternloses Kind ist, wird sie, zusammen mit einigen Alten, nach der Ankunft als Hindernis betrachtet. Sie wird beiseite getrieben, vorbei an einem Kleiderhaufen, „der so hoch ist wie ein Berg“. Sie erlebt zwei Minuten lang den Anblick eines leicht bewölkten Himmels, riecht Kiefern und spürt Sand und kleine Steine unter ihren Füßen. Bevor sie sich erschießen lässt, zieht sie die Schuhe für immer aus.

  1. Die Zurücknahme des Lebens

Nichts Schöneres, als mit offenen Augen zu tauchen.

Der letzte Abschnitt stellt eine letzte schöne Erinnerung dar: das Tauchen und Kitzeln der Eltern. Dann beginnt die Zurücknahme ihres Lebens: Drei Jahre Klavierspielen, der Rückwärtsüberschlag am Reck, alle Bewegungen des Schwimmens, das Greifen nach Krebsen und die Knotenkunde beim Segeln werden „ins Unerfundene zurück-genommen“. Zuletzt, ganz am Ende, wird auch ihr Name zurückgenommen: „Doris.“.

Anmerkung

Die am meisten erschütternde Stelle ist wohl, als beschrieben wird, was ihr alles durch die Ermordung zerstört wird. Gerade diese absolute Sachlichkeit macht das deutlich.

Drei Jahre lang hat das Mädchen Klavierspielen gelernt, aber jetzt, während sein toter Körper in die Grube hinunterrutscht, wird das Wort Klavier von den Menschen zurückgenommen, jetzt wird der Rückwärtsüberschlag am Reck, den das Mädchen besser beherrschte als seine Schulkameradinnen, zurückgenommen und auch alle Bewegungen, die ein Schwimmender macht, das Greifen nach Krebsen wird zurückgenommen, ebenso wie die kleine Knotenkunde beim Segeln, all das wird ins Unerfundene zurück-genommen, und schließlich, ganz zuletzt, auch der Name des Mädchens selbst, bei dem niemals mehr jemand es rufen wird: Doris.“

Anregung

Erstaunlicherweise gibt es eine parallele Beschreibung in dem folgenden Buch, das auch die Schrecken des Ersten Weltkrieges behandelt:

Geert Mak, In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert, Siedler-Verlag, Ausgabe 2005,
ISBN 978-3-641-20225-5-V003

„Im November 1914 waren allein um Ypern herum schon 100 000 Mann gefallen. Später sollten in dieser Gegend noch weitere 400 000 Männer sterben. Norman Collins (1898) musste die Toten begraben, Leichen, die teilweise schon Wochen auf dem Schlachtfeld gelegen hatten. »Den ersten, den ich so sah, habe ich angefasst, und eine Ratte kam aus seiner Hirnschale geschossen.

Dann dachte man: All die Pläne und Hoffnungen und alles, was sie ändern wollten in der Welt, aber in Wirklichkeit starben sie alle innerhalb von ein paar Minuten.«“

Quelle:
Position 1573 im Kindle-Ebook

https://lesen.amazon.de/kp/kshare?asin=B01G1S9W44&id=22diy5maxvcbvpz3wgtxab4sxu

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