Trakl, „Der Gewitterabend“ – wenn ein Gedicht des Expressionismus im Stil der Romantik beginnt
Dieses 1913 erschienene Gedicht ist insofern besonders interessant, weil es zum einen am Anfang im Stil der Romantik beginnt, sich dann in viel Gewitter-Wildheit hineinsteigert und am Ende plötzlich im Regen Entspannung präsentiert.
Das wird besonders in der ersten Strophe deutlich, wo der romantischen Situation draußen ein Innenleben entgegengesetzt wird, in dem „Angstgespenster“ nisten.
Zu diesen „Angstgespenstern“ ein kurzer Hinweis:
Auf dieser Seite und in einem Video
https://schnell-durchblicken.de/expressionismus-ein-begriff-wird-lebendig
haben wir an dieser ersten Strophe gezeigt,
wie normale Schilderung in eine poetische übergeht – bis schließlich deutlich wird, dass das lyrische Ich eher seine Innenwelt wiedergibt, sie gewissermaßen der Außenwelt, nämlich dem Weinlaub „unterstellt“.
Das heißt: Die Außenwelt wird genutzt, um innere Stimmungen deutlich zu machen.
Der Gewitterabend
- O die roten Abendstunden!
- Flimmernd schwankt am offenen Fenster
- Weinlaub wirr ins Blau gewunden,
- Drinnen nisten Angstgespenster.
- Staub tanzt im Gestank der Gossen.
- Klirrend stößt der Wind in Scheiben.
- Einen Zug von wilden Rossen
- Blitze grelle Wolken treiben,
- Laut zerspringt der Weiherspiegel.
- Möwen schrein am Fensterrahmen.
- Feuerreiter sprengt vom Hügel
- Und zerschellt im Tann zu Flammen.
- Kranke kreischen im Spitale.
- Bläulich schwirrt der Nacht Gefieder.
- Glitzernd braust mit einem Male
- Regen auf die Dächer nieder.
Äußere Form:
- Vier Strophen zu jeweils vier Zeilen
- jeweils ein vierhebiger Trochäus
- Kreuzreim
- durchgehend weibliche Versschlüsse
- Insgesamt typisch für viele Gedichte des Expressionismus: Zum Teil wild im Inhalt, aber konventionell in der Form.
- Ausruf am Anfang, der gefühlsmäßiges Betroffensein, Intensität andeutet
- Andeutungen („Angstgespenster“)
- Personifizierungen des Staubs, des Windes, der Wolken
- Besonders aber des Feuers bzw. der Lichteffekte beim Gewitter, die als „Feuerreiter“ verstanden werden, der sein Ende dann im Wald findet
- Auch der Nacht, die wie ein Vogel plötzlich „Gefieder“ hat
- Gegensatz zwischen der ansteigenden Spannung und der Entspannung am Schluss
Anmerkungen zu diesem Gedicht
- Schon die erste Zeile könnte in jedem Gedicht von Eichendorff oder einem anderen Romantiker stehen.
- Anschließend wird es dann ein bisschen komplizierter. Dass da „Weinlaub“ „flimmernd“ „am offenen Fenster“ „schwankt“, geht auch noch.
- Aber schon das Adverb „wirr“ ist für die Romantik grenzwertig, wenn auch noch möglich.
- Und wenn es um „Angstgespenster“ geht, so sind die höchstens noch in der dunklen Seite der Romantik möglich, würden dort aber sicher „romantischer“ dargestellt als in dieser nüchtern-düsteren Form.
- In der zweiten Strophe ist dann endgültig Schluss mit der Romantik, bei der sicher noch „Staub tanzt“, aber „Gestank der Gossen“, das erinnert eher an die Lebensumstände einfacher Menschen in den Industriegesellschaften vor dem Ersten Weltkrieg.
- Auch der Wind erscheint hier ein bisschen zu aggressiv, wenn er „in Scheiben“ stößt. Wilde Rosse, Blitze und grelle Wolken können demgegenüber durchaus in der Romantik auftauchen, müssten dann aber positiv aufgelöst werden.
- Der Beginn der dritten Strophe schlägt dann schon einen Zerstörungston an, auch „Möwen schrein am Fensterrahmen“ wirkt bedrohlich – und spätestens beim „Feuerreiter“, der „im Tann zu Flammen“ „zerschellt“, haben wir etwas Apokalyptisches.
- Auch der Beginn der letzten Strophe entspricht vielen Gedichten des Expressionismus, die sich mit dem Krankenhauswesen recht drastisch beschäftigten.
- Demgegenüber ist die drittletzte Zeile wieder im Stil der Romantik, wozu noch hinzukommt, dass die Farbe Blau in dieser Epoche eine große Rolle spielt.
- Erstaunlich dann der Schluss – in zweierlei Hinsicht: Zum einen klingt das schon wieder romantisch, zum anderen fragt man sich, was dieses Ende bedeuten soll. Man hat das Gefühl, das Lyrische Ich hat sich jetzt genug am Expressionismus und seinen Anklängen und Bildern abgearbeitet und ist froh, dass jetzt eine Art positive Monotonie eintritt.
- ein genaues Hinsehen in die Situation an einem Gewitterabend,
wobei es gerade auch bei den Expressionisten so sein kann, dass sie sich diesen Gewitterabend nur vorstellen, um etwas ganz Eigenes, aus sich heraus auszudrücken.
Genauer sind wir in einem Video darauf eingegangen:
https://www.youtube.com/watch?v=tOpmqX2PyJk
- ergänzt um eine Art innere Ergänzung (I,4), die in Richtung Beunruhigung geht
- Dazu passen Momente der Aggression bis hin zur Vernichtung
- eine Steigerung in den ersten drei Strophen und ein Übergang zu einer Art Entspannung in der letzten Strophe