Wolfdietrich Schnurre, „Beste Geschichte meines Lebens“ (Mat1833)

Worum es hier geht:

Vorgestellt wird ein Text von Wolfdietrich Schnurre, der auf originelle Art und Weise den Eindruck erweckt, dass da jemand

  • Entweder als Schriftsteller wirklich was in der Zeitung gelesen hat, ganz begeistert war, den Autor vergessen hat, und jetzt in einer Art Tagebuchform seine Erinnerung präsentiert. Was er da mal gelesen hat, klingt dann aber sehr nach einer Erzählung, die hier nur in Stichworten wiedergegeben wird.
    Auf jeden Fall wäre das ein Sachtext (z.B. Tagebucheintrag oder ein Teil der Autobiografie), der voller Bewunderung den Inhalt einer früher mal gelesenen Geschichte wiedergibt.
  • Oder aber hier spielt ein Schriftsteller einfach mit dem Leser und schafft einen Erzähler, der das gleiche tut wie im ersten Fall. Nur ist es diesmal kein Sachtext, sondern ein literarischer Text, eine besondere Art von Kurzgeschichte. Die hat am Anfang einen Rahmen, wie ihn Theodor Storm zum Beispiel in der Novelle „Der Schimmelreiter“ verwendet. Und dieser fiktive Erzähler teilt in Stichworten mit, was er mal gelesen hat.

Hier gehen wir hier noch genauer auf die Geschichte ein.

Aus urheberrechtlichen Gründen nennen wir nur den Anfang des jeweiligen Abschnitts in kursiver Schrift, dann kommt unsere Erläuterung.

Wir haben das absichtlich in viele kleine Einheiten aufgeteilt, um deutlich zu machen, wie gut man diese Darstellung auch in einem Gedicht präsentieren könnte.

Wolfdietrich Schnurre

Beste Geschichte meines Lebens

  • Beste
  • Anderthalb
  • Autor
    • So könnte ein Sachtext beginnen, zum Beispiel
    • Ein Tagebuch-Eintrag. Man gibt den Inhalt einer Geschichte oder eines realen Falls aus einer Zeitung weiter.
    • Entweder ist das hier überhaupt noch kein fiktionaler Text.
    • Oder aber ein fiktionaler Text spielt diese Situation durch. Dann hätte man natürlich einen auktorialen Erzähler, weil der ja über der Geschichte steht und sie eben weitergibt und sich dabei auch zu erkennen gibt.
  • Zwei
  • Einer
  • Nur
  • Der andere
  • Der am
    • Auch hier ist es nicht leicht, die Erzählhaltung zu bestimmen. Denn man merkt hier deutlich, dass es eine übergeordnete Instanz gibt, die berichtet, was in diesem Krankenzimmer abgeht.
    • Dabei werden auch die Gedanken der Kranken wiedergegeben.
    • Das geschieht eigentlich nicht aus der Perspektive der Personen.
    • Von daher spricht hier auch alles für eine auktoriale Haltung, allerdings in einer ganz besonderen Form.
    • Hervorzuheben ist die sprachlich reduzierte Form, was aber die dramatische Zuspitzung eher betont.
    • Um den
  • erzählt
  • was draußen
    • Hier ist wichtig, dass der mit der Nähe zum Fenster sich um den anderen kümmert, dessen Nachteil ausgleichen will,
    • Indem er ihm stundenlang das gibt zumindest in Erzählform, was er nicht sehen kann.
  • Eines Nachts
  • Der an der Tür könnte die Schwester rufen.
  • Unterlässt es; denkt an das Bett.
    • Hier nun die dramatische Situation,
    • In der der, der eingreifen könnte, es nicht tut,
    • weil er auf einen tödlichen Ausgang und dann das ersehnte Bett am Fenster hofft.
  • Am Morgen ist der andere tot; erstickt.
  • Sein Fensterbett wird geräumt, der bisher an der Tür lag, erhält es.
  • Sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen.
  • Gierig erwartungsvoll wendet er das Gesicht zum Fenster.
  • Nichts; nur eine Mauer.
    • Hier nun das schreckliche Ergebnis.
    • Dann der Hinweis, dass alles so läuft, wie der Typ, der die Hilfeleistung unterlassen hat, es sich vorgestellt hat.
    • Besonders betont wird die innere Haltung, mit der der Täter den gewünschten Platz mit der erhofften Perspektive einnimmt.
    • Dann der Hammer: Wenn man die Geschichte zum ersten Mal liest, kann es einen durchaus ganz schön treffen.
    • Die knappe Schilderung führt dazu, dass man sich noch mal klarmacht, was hier eigentlich geschehen ist.
    • Da hat ein Mensch alles für einen anderen getan, was er in seiner Situation tun konnte.
    • Dieser Mensch hat es ihm nicht nur nicht gedacht, er ist sogar an seinem schrecklichen Tod mitschuldig.
    • Und dann eine Art Strafe, denn der Täter bekommt nicht das, was er sich gierig ersehnt hat.
    • Er bleibt mit seinem schrecklichen Tat-Geheimnis zurück und muss damit leben.
    • Man kann sich allerdings fragen, ob das Opfer nicht auch einen Fehler gemacht hat, indem es dem späteren Täter oder Nicht-Helfer etwas vorgespielt hat, was letztlich mit zu seinem Tod beigetragen hat.
    • Damit bekommt die Geschichte eine ziemliche Vielschichtigkeit.
Vergleichsmöglichkeit:

Diese Geschichte lässt sich übrigens mit zwei Balladen vergleichen

  1. Droste-Hülshoff, Die Vergeltung
    – Hier ist es nicht eigene Unbedachtsamkeit, sondern die zweite Schandtat von anderen, die die erste Schandtag bestraft.
    https://textaussage.de/schnell-durchblicken-ballade-die-vergeltung-von-annette-von-droste-huelshoff
  2. Geibel, Die Schatzgräber:
    Eine Ballade, die zum einen die Habgier von Menschen zeigt, die plötzlich Reichtum finden. Dann zählt auch Kameradschaft nicht mehr, man versucht, sich gegenseitig um den Lohn für die Arbeit zu bringen. In diesem Fall aber wird das so bestraft, dass alle betroffen sind. Eine spannende Ballade mit einem echt starken Ende.Tipp für den Einsatz im Unterricht: Man präsentiert die Ballade nur bis zu den ersten beiden Zeilen der 15. Strophe – und lässt die Schüler dann überlegen, wie die Ballade weitergehen könnte.
    https://textaussage.de/emanuel-geibel-die-goldgraeber-spannend-und-moralisch-anspruchsvoll
Insgesamt
  1. liegt zunächst einmal eine ganz außergewöhnliche Gattung vor, nämlich eine Art einführender Bericht einer übergeordneten Erzähl-Instanz,
  2. die dann in einer Art stichwortartigen Inhaltsangabe ein fiktives oder theoretisch auch reales Geschehen wiedergibt.
  3. Bezeichnenderweise wird am Anfang der Eindruck erweckt, es könnte sich um einen realen Fall handeln. Aber in Zeitungen findet man ja auch Geschichten.
  4. Die Tendenz geht auf jeden Fall in diese Richtung.
  5. Der Text selbst erweckt den Eindruck, dass es ein Sachtext ist, nämlich der Bericht über eine Lektüre und die Wiedergabe des Inhalts der Lektüre.
  6. Da es sich beim Verfasser um einen Schriftsteller handelt, kann man auch annehmen, dass er sich das Ganze ausgedacht hat und damit eine komplizierte geschachtelte Erzählsituation schafft.
  7. Als Behelfsschriftsteller kann man diesen Text mit seiner Idee fantastisch finden, denn er ermöglicht es einem, nicht wirklich ausformulierte Geschichten trotzdem in der Grundidee zu präsentieren.
  8. Natürlich könnte man sagen, dass das einfach eine Idee ist, die man hatte.
  9. Aber viele raffinierter ist es natürlich, auch bereits die Inhaltsangabe in eine fiktive Erzählsituation zu packen.
  10. Das hat den Vorteil, dass man nie sagen muss, in welcher Zeitung diese Geschichte angeblich gestanden hat.

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