Wolfgang Borchert, „Draußen vor der Tür“: die Ausgangssituation und die ersten Teile vor Szene 1 (Exposition)

Worum es hier geht:

  • Wolfgang Borcherts Stück „Draußen vor der Tür“ spielt in einer Zeit, die wir uns heute kaum noch vorstellen können.
  • Deshalb versuchen wir hier, da ein bisschen Licht hineinzubringen.
  • Anschließend stellen wir die ersten Teile des Dramas vor. Man nennt so etwas „Exposition“: Da wird erst mal klargemacht, worum es geht.
  • Am Ende fassen wir alles zusammen und bewerten auch diesen besonderen Anfang.

Die Situation, in der dieses Stück spielt

Das Stück spielt im Nachkriegsdeutschland, genauer gesagt, es porträtiert die Heimkehr eines Soldaten namens Beckmann. Es ist eine Zeit, in der viele Männer aus dem Krieg zurückkehren, aber kein Zuhause mehr finden oder feststellen müssen, dass sich alles verändert hat. Beckmann war „tausend Tage draußen in der Kälte“ und hat für seine Rückkehr „mit seiner Kniescheibe bezahlen“ müssen, was auf körperliche und seelische Verletzungen durch den Krieg hindeutet. Die Heimkehrer erleben ihre Realität als einen „ganz alltäglichen Film“ der Wahrheit, bei dem sie merken, dass für sie „kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße“. Dies beschreibt eine Situation tiefster Entfremdung und Obdachlosigkeit, sowohl physisch als auch metaphorisch, in einer zerstörten Heimat.

Die ersten Teile des Theaterstücks:

Die ersten Teile des Dramas, die als Exposition dienen, sind der Titel, der einführende Text „Ein Mann kommt nach Deutschland“, das „Vorspiel“ und der Abschnitt „Der Traum“.

Der Titel und die einleitenden Bemerkungen:

◦ Der volle Titel „Draußen vor der Tür (Ein Mann kommt nach Deutschland) (Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will)“ ist bereits programmatisch. Er benennt nicht nur den Protagonisten als einen Heimkehrer, sondern weist auch darauf hin, dass das Stück eine unbequeme Wahrheit anspricht, die von der Gesellschaft lieber ignoriert werden möchte. Der Zusatz „Hans Quest gewidmet“ ist eine persönliche Widmung, die aber für die dramaturgische Analyse des Inhalts weniger relevant ist.

  • „Ein Mann kommt nach Deutschland“:

◦ Dieser Abschnitt führt den Protagonisten, Beckmann, ein, ohne ihn direkt beim Namen zu nennen. Er wird als „einer von denen“ beschrieben, der „ganz anders wieder [kommt] als er wegging“. Sein Zustand ist jämmerlich: „Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen, um die Vögel (und manchmal abends auch die Menschen) zu erschrecken. Innerlich – auch.“.

◦ Schlüsselzitat: „Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße.“

◦ Dieses Zitat fasst die zentrale Thematik der Heimatlosigkeit und Isolation der Kriegsheimkehrer zusammen und gibt dem Stück seinen Titel.

• Das „Vorspiel“:

◦ Das Vorspiel beginnt am Abend an der Elbe, wo der Beerdigungsunternehmer auftritt und das Stöhnen des Windes und das Schwappen des Wassers zu hören sind. Die Szene ist von Beginn an atmosphärisch düster und melancholisch.

◦ Der Beerdigungsunternehmer wird als zynische und vom Tod profitierende Figur dargestellt, die fortwährend ekelhaft rülpst und den Tod von Menschen kommentiert: „Rums! Rums! Wie die – rums! Wie die Fliegen!“. Er bemerkt einen Mann (Beckmann) auf einem Ponton, der „gefährlich dicht am Wasser“ steht und als „einer von denen aus der großen grauen Zahl, die keine Lust mehr haben“ beschrieben wird, bevor dieser schließlich verschwindet – offenbar in das Wasser springt.

◦ Eine weitere Figur, der alte Mann, tritt auf und identifiziert sich als Gott, „an den keiner mehr glaubt“. Er weint, weil er das Sterben der Menschen nicht ändern kann: „Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend. Und ich, ich kann es nicht ändern.“.

◦ Der Beerdigungsunternehmer, der den Tod selbst personifiziert, erklärt, dass sein Geschäft in diesem Jahrhundert gut lief und er „ein bisschen Fett angesetzt“ hat: „Ein Krieg gibt dem anderen die Hand. Wie die Fliegen! Wie die Fliegen kleben die Toten an den Wänden dieses Jahrhunderts.“ Sein Rülpsen ist ein Zeichen des „Überfressen[s]“ am Leid und Tod der Menschen.

◦ Schlüsselzitat: „Ich bin der Gott, an den keiner mehr glaubt.“

◦ Dieses Zitat unterstreicht die Verzweiflung und Ohnmacht des Glaubens angesichts des massenhaften Sterbens und Leids im Krieg und in der Nachkriegszeit. Es etabliert die allegorische Ebene des Dramas.

• „Der Traum“:

◦ In diesem Abschnitt befindet sich Beckmann scheinbar in der Elbe und führt einen Dialog mit dem Fluss selbst, der als personifizierte, raue und unromantische Gestalt auftritt. Die Elbe nennt ihn „Küken“ und „Grünschnabel“ und hat eine klare Botschaft an ihn: sie will seinen Selbstmord nicht akzeptieren.

◦ Beckmann äußert seine tiefste Erschöpfung und seinen Wunsch zu sterben: „Pennen will ich. Tot sein. Mein ganzes Leben lang tot sein. Und pennen. Endlich in Ruhe pennen. Zehntausend Nächte pennen.“ Er zählt die Gründe für seine Verzweiflung auf: „Ich kann nicht mehr hungern. Ich kann nicht mehr humpeln und vor meinem Bett stehen und wieder aus dem Haus raushumpeln, weil das Bett besetzt ist. Das Bein, das Bett, das Brot – ich kann das nicht mehr, verstehst du!“.

◦ Die Elbe weist ihn harsch ab: „Ich will dein armseliges bisschen Leben nicht. Du bist mir zu wenig, mein Junge. Lass dir das von einer alten Frau sagen: Lebe erstmal. Lass dich treten. Tritt wieder! Wenn du den Kanal voll hast, hier, bis oben, wenn du lahm getrampelt bist und wenn dein Herz auf allen vieren angekrochen kommt, dann können wir mal wieder über die Sache reden. Aber jetzt machst du keinen Unsinn, klar? Jetzt verschwindest du hier, mein Goldjunge. Deine kleine Handvoll Leben ist mir verdammt zu wenig. Behalte sie. Ich will sie nicht, du gerade eben Angefangener. Halt den Mund, mein kleiner Menschensohn. Ich will dir was sagen, ganz leise, ins Ohr, du, komm her: ich scheiß auf deinen Selbstmord!“

◦ Die Elbe wirft ihn schließlich wieder an Land, mit dem Auftrag, es „noch mal versuchen“ zu sollen.

Zusammenfassung der Aussagen dieser Teile

Diese ersten Teile des Dramas machen deutlich:

  • Beckmanns existenzielles Leid: Er ist ein Heimkehrer, der körperlich und seelisch vom Krieg gezeichnet ist (das steife Bein, die Kälte, der Hunger) und dessen persönliche Existenzgrundlagen (Zuhause, Frau, Bett) zerstört sind. Er ist „draußen vor der Tür“ seines eigenen Lebens und seiner Heimat.
  • Die Omnipräsenz des Todes und die Trivialisierung des Lebens: Der Beerdigungsunternehmer (Tod) und seine zynische Haltung, sowie die Art und Weise, wie ein Menschenleben („Ein Mensch stirbt. Und? Nichts weiter.“) als bedeutungslos abgetan wird, verdeutlichen die umfassende Entwertung menschlichen Lebens nach dem Krieg. Der Tod hat in diesem Jahrhundert „Fett angesetzt“, was die Massen an Opfern symbolisiert.
  • Die Krise des Glaubens und der Menschlichkeit: Die Figur des weinenden Gottes, an den „keiner mehr glaubt“, und seine Hilflosigkeit angesichts des Leidens zeigen eine tiefe spirituelle Leere. Die Gesellschaft scheint abgestumpft zu sein.
  • Die Zurückweisung des Selbstmords als Lösung: Obwohl Beckmann verzweifelt ist und sterben möchte, wird ihm diese „Ausflucht“ von der personifizierten Elbe verwehrt. Die Elbe zwingt ihn geradezu zum Weiterleben, wenn auch unter harten Bedingungen („Lebe erstmal. Lass dich treten. Tritt wieder!“). Dies setzt den Grundkonflikt für das weitere Stück: das Ringen um das Überleben und die Suche nach Sinn in einer sinnentleerten Welt.

Das Besondere an dieser Exposition

Bedeutung der Exposition in einem Drama: Die Exposition in einem Drama ist der Teil am Anfang, der das Publikum mit den notwendigen Informationen versorgt, um der Handlung folgen zu können. Dazu gehören die Einführung von Figuren, des Ortes und der Zeit der Handlung, die Darstellung der Ausgangssituation und oft auch die Andeutung des grundlegenden Konflikts oder der Thematik. Ziel ist es, dem Zuschauer Orientierung zu geben und sein Interesse zu wecken.

Das Besondere an Borcherts Exposition: Borchert verwendet hier keine klassische, realistische Exposition, sondern eine allegorische und symbolisch verdichtete Form:

  • Fehlen einer klaren, realistischen Einführung: Es gibt keine detaillierte Vorstellung der Figuren in einer alltäglichen Szene. Stattdessen wird Beckmann als Prototyp („ein Mann“, „einer von denen“) eingeführt. Die Szenerie ist zunächst nebulös, erst allmählich präzisiert sich der Ort an der Elbe.
  • Allegorische Figuren und die Entgrenzung von Realität und Traum: Anstelle menschlicher Interaktionen treten sofort personifizierte und allegorische Figuren wie der Tod (Beerdigungsunternehmer) und Gott auf, die philosophische und existenzielle Fragen verhandeln. Auch die Elbe ist eine sprechende Figur, die Beckmanns Verzweiflung entgegensteht. Dies schafft von Anfang an eine über-reale, universelle Dimension des Dramas, die über das rein Individuelle hinausgeht.
  • Direkte Konfrontation mit dem Hauptkonflikt: Borchert beginnt nicht mit einem langsamen Aufbau, sondern stürzt den Protagonisten (und das Publikum) direkt in den existentiellen Konflikt des Selbstmordversuchs. Der Kampf ums Leben und gegen die Verzweiflung ist sofort präsent und wird nicht erst entwickelt.
  • Verwendung von Prosa und lyrischen Elementen: Die Exposition ist nicht nur Dialog, sondern enthält auch erzählende Prosatexte („Ein Mann kommt nach Deutschland“) und beinahe lyrische Beschreibungen (Wind, Elbe), die die Stimmung stark prägen.
  • Ironische Brechung: Der Untertitel „Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“ ist eine ironische Brechung, die das Publikum sofort herausfordert und die Ernsthaftigkeit und Unbequemlichkeit des Themas hervorhebt.

Borcherts Exposition ist somit keine schlichte Einführung, sondern ein symbolisch aufgeladenes Vorspiel, das sofort die philosophische Tiefe, die gesellschaftliche Kritik und die existentielle Verzweiflung des Stückes offenbart. Sie ist stark emotionalisierend und verlangt dem Publikum eine aktive Auseinandersetzung mit den gezeigten Allegorien ab.

Wie könnte man diesen besonderen Einstieg beurteilen?

Ich finde, diese Art der Exposition führt außerordentlich gut in das Drama ein. Zwar ist sie nicht traditionell, aber gerade das macht sie so wirkungsvoll.

  • Unmittelbare Emotionalität: Man wird sofort in Beckmanns desolate Lage und seine tiefe Verzweiflung hineingezogen. Der Selbstmordversuch und die schonungslose Sprache der Elbe erzeugen eine starke emotionale Wirkung.
  • Thematische Tiefe von Anfang an: Durch die Einführung von Gott und dem Tod als Figuren wird deutlich, dass es nicht nur um das Schicksal eines Einzelnen geht, sondern um universelle Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Leid, dem Glauben und der menschlichen Verantwortung in einer Nachkriegszeit, in der die Werte verrückt sind. Die Trivialisierung des Todes durch den Beerdigungsunternehmer macht die Abstumpfung der Gesellschaft erschreckend sichtbar.
  • Symbolkraft und Allegorie: Die allegorische Darstellung des Todes und Gottes sowie die Personifizierung der Elbe machen das Drama zu mehr als einer realistischen Momentaufnahme. Sie verleihen ihm eine zeitlose Dimension und rücken es in den Bereich eines existenzphilosophischen Diskurses. Das ist anfangs vielleicht ungewohnt, aber regt zum Nachdenken an und bereitet auf die weiteren, oft surrealen Szenen vor.
  • Eindringliche Sprache: Die Sprache ist direkt, oft derb, aber immer eindringlich und prägnant. Sie bleibt im Gedächtnis und transportiert die Härte der Realität und die innere Gefühlswelt Beckmanns.

Insgesamt schafft Borchert es mit dieser Exposition, nicht nur die äußere Situation, sondern vor allem die innere Verfasstheit des Protagonisten und die moralische Landschaft der Nachkriegszeit sofort und eindringlich zu etablieren. Man fühlt sich als Leserin oder Zuschauerin von diesem Stück packend erfasst und konfrontiert, was eine ausgezeichnete Grundlage für das weitere Eintauchen in das Drama bildet.

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