LBV: Die Erzähltechnik in dem Roman „Heimsuchung“ im Detail (Mat8704-Erz-Det)

Worum es hier geht:

Der Roman „Heimsuchung“ ist sehr eigenwillig aufgebaut und auch die Erzähltechnik ist zumindest gewöhnungsbedürftig, wenn nicht sogar ein bisschen fragwürdig. Aber das ist wortwörtlich gemeint, nicht als Kritik, sondern als Anregung mal darüber nachzudenken.

Auf der folgenden Seite
https://schnell-durchblicken.de/die-erzaehltechnik-in-dem-roman-heimsuchung-von-jenny-erpenbeck

haben wir schon Beobachtungen zusammengestellt und an entsprechenden Textstellen festgemacht.

Dabei konnte Folgendes festgehalten werden:

  1. Ungewöhnlicher Erzählstil:
    Der Roman verzichtet oft auf klare Erzählerkennzeichnung – Leser*innen müssen selbst herausfinden, wer eigentlich spricht oder denkt.

  2. Perspektivmischung:
    Häufige Überlagerung von Figurenperspektive und Erzählerblick – Gedanken der Figuren fließen mit Kommentaren oder Reflexionen einer höheren Erzählinstanz zusammen.

  3. Beispielkapitel „Das Mädchen“ (EB 68 ff.):
    Der Einstieg zeigt das Mädchen in einem Versteck – die Sprache ist dabei nicht konsequent kindlich, sondern reflektiert und distanziert.

  4. Auktoriale Überformung:
    Sätze wie „vergeht Zeit“ oder „entfernt von dem Mädchen, das sie einmal war“ verraten eine Blickrichtung von außen, als würde die Erzählinstanz später oder übergeordnet auf das Geschehen blicken.

  5. Zwischen Erleben und Deutung:
    Die Figur wird zur Projektionsfläche: Der Text präsentiert nicht nur, was das Mädchen denkt, sondern auch, was die Autorin darüber denkt, dass sie so denkt.

  6. Erlebte Rede als Alternative:
    Der Text diskutiert, dass erlebte Rede oder innerer Monolog glaubwürdiger wären, um das Bewusstsein eines zwölfjährigen Mädchens wirklich spürbar zu machen.

  7. Beispielhafte Parallelmontage (EB 75/76):
    Literarisch starkes Mittel: Gleichzeitige Darstellung zweier Vorgänge –
    das Mädchen liest heimlich ein Buch, während ihr Familienbesitz versteigert wird.
    → Gegenschnitt zwischen individueller Welt und totalitärem System.

  8. Wirkung auf den Leser:
    Diese „vermischte“ Erzählweise erzeugt ein Gefühl von Entfremdung – man bleibt zwischen Nähe (Gefühle des Mädchens) und Distanz (Erzählerblick) gefangen.

  9. Erzählhaltung als Spiegel der Themen:
    Die Technik unterstreicht den Grundgedanken des Romans:
    Verlust von Identität, Auflösung des Ichs, Distanz zum eigenen Leben.

  10. Didaktische Perspektive:
    Die Seite regt dazu an, diese Perspektivmischung bewusst zu beobachten – als Anlass, über Authentizität, Erzählstimme und Empathie beim Lesen nachzudenken.

Jetzt geht es darum, das zu erweitern

vor allem im Hinblick auf den akuten Verdacht einer Intentionalität, die auf Minimalisierung der Bedeutung des Menschen hinausläuft und es notwendig macht, zum Beispiel Goethes Gedicht „Das Göttliche“ heranzuziehn, um zumindest im Unterricht ein Versinken in einer Welt der „Heimsuchungen“ zu verhindern.

LV: „Heimsuchung“ – Deutungsansätze – dazu die Hypothese: Goethe als notwendige Ergänzung

Videolink

Die Auswertung von 10 Quellen aus dem Uni- und Schülerhilfe-Bereich

Bevor wir mit eigenen Forschungen beginnen, sollte man sich im Bereich des vorhandenen Bildungs-Mainstreams umsehen.
NotebookLM hat auf unsere Frage Folgendes zusammengetragen.
Davon werden wir im Folgenden ausgehen:

Die Quellen gehen umfassend auf die Differenzierung von Erzähltechnik und Erzählperspektive in Romanen ein, wobei insbesondere der Kapitel- oder Episodenbezug zur Strukturierung der Analyse dient.

Differenzierung der Erzähltechnik und Erzählperspektive

Die Quellen bieten sowohl eine theoretische Grundlage für die Narratologie als auch konkrete anwendungsbezogene Analysen, die die Variation von Erzählstrategien beleuchten.

Theoretische und strukturelle Differenzierung

  • In der Erzähltheorie werden grundlegende Unterscheidungen im Erzählverhalten getroffen, darunter das auktoriale, personale, neutrale Erzählverhalten sowie die Ich-Erzählung.
  • Die Erzähltextanalyse differenziert die Dimensionen des Diskurses, wie etwa Zeit, Modus und Stimme. Speziell der Modus wird in Distanz und Fokalisierung unterteilt, wobei letztere nach Nullfokalisierung (auktorial), interner Fokalisierung (aktorial) und externer Fokalisierung (neutral) unterschieden wird.
  • Die Stimme des Erzählers wird nach der Stellung zum erzählten Geschehen in heterodiegetisch (3. Person/keine Figur der erzählten Welt) und homodiegetisch (1. Person/Figur der erzählten Welt) unterschieden.
  • Die Darstellung mentaler Prozesse erfolgt mittels verschiedener Formen wie innerer Monolog, zitierter Figurenrede, erlebter Rede und Bewusstseinsbericht.

Kapitel- und werkbezogene Differenzierung

  • Im Roman Heimsuchung von Jenny Erpenbeck wird die Geschichte durch 12 episodische Biografien in kurzen Kapiteln und knappen Ausschnitten erzählt. Dies ist ein wesentliches Merkmal des modernen Erzählens, welches den Wechsel der Erzählperspektive und eine fragmentarische Perspektive einer Figur kennzeichnet.
  • Diese fragmentarische Erzählweise, die nur subjektive Einzelausschnitte der Handlung liefert, verhindert ein schlüssiges Gesamtbild und zeigt, dass eine allgemeingültige Wirklichkeit oder ein verbindliches Werte- und Normensystem nicht mehr existiert.
  • Der Erzählstil wird kapitelbezogen variiert:

◦ Das Kapitel über den Großbauern wird durch eine objektive/neutrale Erzählinstanz präsentiert, die den Verfall und Tod dokumentarisch darstellt und auf Kommentare verzichtet.

◦ Im Kapitel Der Architekt wird eine rein subjektive Perspektive des personalen Erzählens verwendet. Hier dominiert die erlebte Rede im Präteritum.

  • Im Roman Mitgift findet eine Differenzierung anhand von Erzählebenen statt (Primäre, Sekundäre, Tertiäre Erzählung). Die Haupthandlung wird durch Analepsen (Rückblenden) unterbrochen, die wichtige Informationen zur Figurengenese liefern und die Geschichte von Aloes Kindheit und Holgers Jugend auf verschiedenen Ebenen verorten. Die Rahmenhandlung (Aloes und Stefans gemeinsames Leben) nutzt hierbei gleichzeitiges Erzählen (Präsens), während die Rückblicke das späte Erzählen (Präteritum) verwenden.
  • Im Gegensatz dazu wird der Roman Malina in den Quellen so dargestellt, dass er im Wesentlichen nur über eine einzige Erzählebene verfügt (Primäre Ebene/Rahmengeschichte), da sich die gesamte Handlung im „Heute“ der Hauptfigur verortet.

Veränderung der Intentionalität und die Minimalisierung des Menschen

Die veränderte Intentionalität des Romans, die zur Minimalisierung der Bedeutung des Menschen vor dem Hintergrund der Unerbittlichkeit der Natur führt, spiegelt sich in den narrativen Strategien und thematischen Schwerpunkten wider, insbesondere im Hinblick auf Heimat und Schicksal.

  • Minimierung des Menschen in Heimsuchung: Die moderne Erzählweise in Heimsuchung (fragmentarisch, wechselnde Perspektive) deutet darauf hin, dass der moderne Mensch in einer ihm fremd gewordenen Welt lebt. Die narrative Darstellung ist von Verfall, Tod, Pessimismus und einer eher apokalyptischen Endzeitstimmung geprägt.
  • Scheitern menschlicher Kontrollversuche: Die Figuren sind „heimgesucht von Schicksalsschlägen ohne Chance dagegen“. Der Architekt beispielsweise versucht, durch den Bau seines Hauses eine Heimat und Identität zu gewinnen (das Haus als „dritte Haut“), scheitert aber, da politische und zeitliche Kräfte stärker sind und ihn aus seinem „Gehäuse“ jagen. Die Figuren können Heimat nicht dauerhaft festschreiben.
  • Transzendentale Obdachlosigkeit: Die Erzählung illustriert die „transzendentale Obdachlosigkeit“ des modernen Menschen, dessen traditionelle Ordnungen und Sinngebung fragwürdig geworden sind. Die Kontinuität und familiäre Verbundenheit garantierende Heimatvorstellungen zerbrechen.
  • Unerbittlichkeit der Natur/Zeit: Die Gärtner-Figur dient als Kontrastfolie für die menschliche Hektik und Suche nach Glück in der modernen Gesellschaft. Er ist die einzige glückliche Figur, weil er in Einklang und Harmonie mit der Natur und dem Kreislauf der Jahreszeiten lebt und sich außerhalb der Geschichte und der Zeit befindet. Sein plötzliches Verschwinden, nachdem sein Garten verkommt, kann als Rückzug einer „enttäuschten Gottesfigur“ interpretiert werden, die die Welt den Menschen überlassen hat.
  • Destruktion des Ichs in Malina: Auch in Ingeborg Bachmanns Malina führt die narrative Entwicklung zu einer Minimalisierung des Ichs, wenn auch primär psychologisch begründet. Die Protagonistin scheitert an ihrer Selbstkonstruktion und ihrer unfähigen Distanzierung von der Vergangenheit, was zur absoluten Destruktion – dem Tod – führt. Das Ich verliert am Ende seine menschlichen Züge und wird zu einem neutralen „Es“, das in der Wand verschwindet.

Die Intentionalität der Romane, insbesondere in Heimsuchung und Malina, verschiebt sich demnach hin zu einer Darstellung der Prekarität und Fragmentierung der menschlichen Existenz gegenüber stärkeren, unpersönlichen Mächten (Schicksal, Zeit, Natur, Geschichte).

Hier eine vorläufige Zusammenfassung von ChatGPT

Es sind also unsere Gedanken, Recherchen und Ergebnisse, die hier zusammengefasst werden.
Deshalb unser Vorschlag für einen lernenden Dreischritt:

  1. Eigene Ideen, Recherchen, Fragen
  2. Dann die KI
  3. Es folgt die kritische Verarbeitung der sich dabei ergebenden Ergebnisse – mit dem Ziel weiterführender Fragen.

Wir haben das erst mal hier einfach reinkopiert, werden es aber noch kommentieren und nutzen.

Heimsuchung – Erzähltechnik und Deutungsperspektive

(mit Blick auf Goethes „Das Göttliche“ als Kontrast)

1. Eigenwillige Erzählstruktur

Jenny Erpenbecks Roman verzichtet auf eine lineare Handlung und auf eine klar erkennbare Erzählinstanz.
Zwölf Episoden – zwölf Biografien – kreisen um ein Haus am See, das zum stummen Zeugen wechselnder Zeiten wird.
Die Perspektiven wechseln ständig; oft fließen Gedanken der Figuren mit Kommentaren einer übergeordneten Stimme zusammen.
Das erzeugt Nähe und Distanz zugleich – der Leser schwankt zwischen Anteilnahme und Fremdheit.

2. Wirkung der Perspektivmischung

Diese Erzählweise lässt die Figuren wie Durchgangsgestalten erscheinen.
Ihre inneren Bewegungen werden angedeutet, aber nie zu Ende geführt.
Was bleibt, ist ein Gefühl von Auflösung: Geschichte wiederholt sich, Identität zerbricht.
Die Sprache registriert mehr, als sie erklärt – und verweigert sich jeder Sinnstiftung.

3. Intentionalität: Die Minimierung des Menschen

Die ästhetische Konsequenz dieser Technik ist programmatisch:
Der Mensch verliert seine zentrale Stellung.
Er erscheint als Teil eines übermächtigen Natur- und Geschichtskreislaufs, der ihn formt, vertreibt, vernichtet.
„Heimsuchung“ erzählt damit nicht nur von Schicksalen, sondern vom Verschwinden menschlicher Bedeutung – eine poetische Anthropologie der Ohnmacht.

4. Symbolik des Gartens

Die Figur des Gärtners steht als Gegenbild:
Er lebt in Einklang mit der Natur, frei von Besitz, frei von Geschichte – und verschwindet am Ende, als sei die Natur selbst enttäuscht vom Menschen.
Sein Rückzug markiert den Endpunkt: Selbst das Gleichgewicht der Natur entzieht sich einer Welt, die Sinn nur noch als Erinnerung kennt.

5. Goethe als Gegengewicht

Goethes Gedicht „Das Göttliche“ kann – gerade im Unterricht – als bewusster Kontrast dienen.
Wo Erpenbeck den Menschen als heimgesuchten Teil der Natur zeigt, betont Goethe seine Fähigkeit, „Gutes zu wirken“, seine Verantwortung im Weltganzen.
Damit eröffnet sich ein notwendiges Gespräch zwischen zwei Weltsichten:
Goethe: Vertrauen in eine moralische Ordnung des Daseins.
Erpenbeck: Erfahrung des Verlusts dieser Ordnung.

6. Pädagogischer Impuls

Die Gegenüberstellung hilft, nicht in der Endzeitstimmung moderner Literatur zu verharren, sondern den Gedankenraum zu öffnen:
Wie weit darf Kunst den Menschen relativieren, ohne ihn aufzugeben?
Und wie kann man im Lesen den Punkt finden, an dem Verzweiflung in Erkenntnis umschlägt?


Erzähltechnik im Kapitel „Das Mädchen“

Das haben wir auf die folgende Seite ausgelagert, weil das hier den Rahmen sprengen würde.
https://schnell-durchblicken.de/lbv-die-erzaehltechnik-im-roman-heimsuchung-kapitel-das-maedchen

Wir setzen das noch fort und hoffen auf Fragen und Anregungen

Auf dieser Seite kann man problemlos – auch ohne persönliche Daten – einen entsprechenden Kommentar ablegen:
https://textaussage.de/schnelle-hilfe-bei-aufgaben-im-deutschunterricht

Weitere Infos, Tipps und Materialien