Die Erzähltechnik in dem Roman „Heimsuchung“ von Jenny Erpenbeck (Mat8704-Erz)

Worum es hier geht:

Der Roman „Heimsuchung“ ist sehr eigenwillig aufgebaut und auch die Erzähltechnik ist zumindest gewöhnungsbedürftig, wenn nicht sogar ein bisschen fragwürdig. Aber das ist wortwörtlich gemeint, nicht als Kritik, sondern als Anregung mal darüber nachzudenken.

Wir sammeln hier Beobachtungen und machen sie an entsprechenden Textstellen fest:

Zwischen verstecktem Erzählerkommentar und „erlebter Rede“

Am besten schaut man sich den Anfang des 11. Kapitels an (EB68ff) mit der Überschrift: „Das Mädchen“.

Wir haben das Folgende aus unserer kurzen Kapitelübersicht herausgelöst, weil es dort zu umfangreich wurde für eine Video-Darstellung:
https://schnell-durchblicken.de/quick-guide-roman-heimsuchung-kapitel-das-maedchen

  • Typisch für den Erzählstil des Romans erfährt man auch hier wieder nicht, um was es eigentlich geht. Zwar wird kurz eingestreut, dass es sich um „Doris Tochter von Ernst und Elisabeth zwölf Jahre alt geboren in Duben“ handelt.
  • Aber man fragt sich natürlich, wer sagt das eigentlich. Das Mädchen wird es wohl kaum denken, denn für sie ist das selbstverständlich.
  • Unsere Hypothese: Die Autorin präsentiert eigentlich die Gedanken, und Gefühle, die sie hat, wenn sie sich in eine geschichtliche Situation hineindenkt.
  • Das Problem dabei ist nur, dass es dabei eine Kombination gibt von Figurenperspektive und Erzählerperspektive. Im Einzelnen hat man nicht immer den Eindruck, dass das Gedanken eines 12jährigen Mädchens sind. Darauf wäre zumindest zu achten.
  • Im Mittelpunkt des Einstiegs in das Kapitel steht die Situation in einem Versteck. Später erfährt man, dass es sich um eine Jüdin handelt, deren Verwandte schon abtransportiert worden sind Richtung Polen – und wir ahnen, es geht in eins der Konzentrationslage.
  • Typisch für die besondere Perspektive, die im Roman immer wieder eingenommen wird, ist zum Beispiel die folgende Passage ziemlich am Anfang (EB68). In Kursivschrift der Originaltext – dazwischen unser Kommentar.
    • Während sie auf der kleinen Kiste sitzt, und ihre Knie an die gegenüberliegende Wand stoßen, und sie ihre Beine manchmal nach rechts, manchmal nach links schräg stellt, damit sie nicht einschlafen, vergeht Zeit. Wahrscheinlich vergeht Zeit. Zeit, die sie wahrscheinlich immer weiter und weiter entfernt von dem Mädchen, das sie vielleicht einmal war:
      • Der Gedankenflug wird überzeugend eingeleitet.
      • Spätestens bei „vergeht Zeit“ – hat man das Gefühl, dass hier eine Perspektive von außen aufgemacht wird.
      • Man merkt das auch an der Wendung „entfernt von dem Mädchen“.
      • Es sind ziemlich eindeutig Gedanken, die letztlich der Autorin gekommen sind, während sie sich in die Situation dieses Mädchens hineindenkt und hineinfühlt.
      • Das wäre dann letztlich keine personale Erzählhaltung – sondern eine auktoriale, die eine vorgestellte Situation von oben, von später, von außen betrachtet.
    • Doris Tochter von Ernst und Elisabeth zwölf Jahre alt geboren in Guben. Es ist niemand mehr da, der ihr sagen könnte, ob diese Worte herrenlos sind und sich nur zufällig in diese Kammer, in diesen Kopf verirrt haben, oder ob sie wirklich zu ihr gehören. Zeit hat sich zwischen sie und ihre Eltern, zwischen sie und alle übrigen Menschen geschoben, Zeit hat sie mit sich fortgerissen und in diese dunkle Kammer gesperrt. Farbig ist nur noch das, woran sie sich erinnert, mitten in dieser Dunkelheit, die sie umgibt, deren Kern sie ist, farbige Erinnerungen hat sie in ihrem vom Licht vergessenen Kopf, Erinnerungen von jemand, der sie einmal war. Wahrscheinlich war.
      • Im selben Stil geht es weiter.
      • Wenn man es kritisch betrachtet, wird die Figur eigentlich benutzt, um Gedanken und Gefühle zu präsentieren, die jemand anders hineindenkt.
      • Natürlich ist das strenggenommen ein Erzähler und nicht direkt die Autorin. Aber der Erzähler wird hier fast schon zu einer mitbetroffenen Person – die aber trotzdem in der Gegenwart des Erzählens bleibt.
      • Also eine ziemliche Vermischung von Zeiten und Perspektiven.
    • Wer war sie? Wessen Kopf war ihr Kopf? Wem gehörten jetzt ihre Erinnerungen? Lief die schwarze Zeit immer weiter, auch wenn der Mensch nur noch saß, lief die Zeit immer weiter und riß selbst ein versteinertes Kind noch mit sich fort?
      • Besonders am Ende – bei der Bezeichnung des Mädchens – als „versteinertes Kind“ überwiegt die Außenperspektive.
      • Diskutieren könnte man, ob dieses Bild zu der Figur überhaupt passt. Denn „versteinert“ ist sie angesichts der vielen Gedanken wohl kaum – eher „eingeklemmt“.
      • Anregung: Man könnte mal überlegen, wie die wirklichen Gefühle eines Mädchens sind, das sich in dieser oder einer ähnlichen Situation befindet.
      • Vielleicht wäre die „erlebte Rede“ eine günstigere Erzählform gewesen – denn da ist der Erzähler im Tempus und in der Perspektive sichtbar – aber er bemüht sich um Originalgedanken der Figur.
      • Das könnte etwa so aussehen:
        „Irgendwann reichte es ihr, immer nur anzustoßen und Enge zu spüren. Also beschloss sie, den Ausweg zu nutzen, der ihr immer in schwierigen Situationen des Nicht-handeln-Könnens geblieben war. Sie dachte nach.
      • Ob ihre Mutter wohl schon in Polen angekommen war. Vielleicht stimmte es ja, was man gehört hatte, dass die Juden dort zu Bauarbeiten eingesetzt wurden – vielleicht auch in Munitionsfabriken.
      • An die andere Möglichkeit wollte sie gar nicht denken.“
        usw.
        Man merkt deutlich, dass man die Gedanken hier durchaus auch in der Ich-Perspektive also als inneren Monolog präsentieren könnte. Man beginnt in der erlebten Rede als Überleitung und macht dann im inneren Monolog weiter.
        “ Ob ihre Mutter wohl schon in Polen angekommen war? Vielleicht stimmt es ja, was man gehört hatte, dass die Juden dort zu Bauarbeiten eingesetzt wurden – vielleicht auch in Munitionsfabriken. An die andere Möglichkeit will ich gar nicht denken.“
Parallelmontage

EB75/76: Das ist natürlich ein sehr gutes literarisches Mittel, hier zwei Vorgänge parallel darzustellen, die auf eine entsetzliche Art und Weise gegensätzlich sind.

Während die Verfolgten versuchen, noch etwas für sich zu bekommen (Geld, Buchlektüre), wird alles das, was sie für die Ausreise zusammengestellt hatten, von den Vertretern des Nazi-Systems versteigert, ohne dass sie von dem Geld sicher jemals etwas sehen würden. Dahinter steht sogar die Perspektive endgültiger Vernichtung.

  • „Tatsächlich wurde schon Wochen zuvor,
    • genau an dem Tag im Juni, an dem ihre Mutter zur Gesia gegangen war, um auf dem Schwarzmarkt die Armbanduhr zu verkaufen,
    • und sie selbst auf der Karmelickastraße bei einem Händler das Buch entdeckte, dessen Lektüre ihr die Mutter so lange verwehrt hatte, einen Roman mit dem Titel »Sankt Gunther oder Heimat-los«,
    • wurde an genau diesem Tag, an dem sie, auf der Karmelicka stehend und im Gedränge nur schwer ihren Platz behauptend, in dem Buch blätterte und las und froh war, daß der Besitzer des fliegenden Standes nicht genug Kraft hatte, ihr das Lesen ohne Bezahlung zu verwehren,
  • wurde an ebendiesem Tag
    • ihr gesamter Gubener Hausrat
    • in der umgekehrten Reihenfolge, in der ihr Vater und ihre Mutter ihn zwei Jahre zuvor für die Ausreise nach Brasilien in die Container gepackt hatten,
    • von Herrn Carl Pflüger und dem ihm beigeordneten Kriminalkommissar Pauschel aus den Containern herausgenommen und für die Versteigerung hergerichtet.“

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