Die „schöne Seele“ – eine zentrale Idee der Weimarer Klassik (Mat7284)

Vorab-Hinweis:

Wer nur kurz das Wichtigste zum Thema „schöne Seele“ in der Klassik verstehen will, wir erstellen dazu ein Video.
Infos dazu auf der folgenden Seite:
https://schnell-durchblicken.de/video-schoene-seele-zentrale-idee-der-weimarer-klassik

Wie wir auf diese Frage gekommen sind:

Auf diese Frage sind wir gekommen, als wir uns mit diesem Text beschäftigt haben:
Karin Beier, Theater berauscht. Theater nervt.
https://schnell-durchblicken.de/karin-beier-theater-berauscht-theater-nervt
Um es kurz zu fassen:

  1. In diesem Text wird der besondere Wert des Theaters so dargestellt: Gerade weil es gewissermaßen live ist – und deshalb wohl auch nicht aufgezeichnet werden soll – kann man dort man richtig die Grenzen der „politischen Korrektheit“ und wohl auch des normalen Anstands überschreiten. Umgangssprachlich könnte man sagen: Dort kann man „richtig die Sau rauslassen“.
    1. Die Theorie dahinter: Erstens macht es Spaß – und zweitens wird die dunkle Seite der menschlichen Seele gewissermaßen in einem geschützten, weil fiktiven, Zusammenhang gezeigt. Und es wird gebremst durch den „gesunden Menschenverstand“.
    2. Dieser Vorgang der gewissermaßen außerordentlichen Explosion von Gefühlen und Erfahrungen führt nach Meinung der Autorin auch zur „Katharsis“. Die Idee stammt vom altgriechischen Philosophen Aristoteles. Der glaubte, dass das vielleicht Schreckliche auf der Bühne dazu führt, dass die Zuschauer ausreichend auch selbst erschrecken und dann die Finger von den bösen Dingen lassen und den Gesetzen der Götter gehorchen.
Der Idealismus der Weimarer Klassik:
  1. Die gehört zur Zeit des Idealismus: Da glaubte man daran, dass der Mensch sich zu Höherem „bilden“ soll. Das hatte mit unserem heutigen Bildungsbegriff nicht direkt etwas zu tun – sondern es geht um eine Art innere Herzensbildung.
    1. Goethe glaubte an das „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, wie er es im Gedicht „Das Göttliche“ darstellt. Er sieht das Potenzial zu etwas Höherem in den Menschen und glaubt, dass das letztlich von guten Göttern herkommt, denen wir nacheifern sollen, weil sie direkt nicht (mehr) zu sehen sind.
    2. Besonders sein Freund Schiller hoffte, dass in der Französischen Revolution jetzt – befreit von Adelsherrschaft und Absolutismus – die Menschen nun das Gute aus sich rauslassen können.
    3. Umso entsetzter war er, als dann der Terror begann und die Menschen sich genauso verhielten wie früher – nur unter einer neuen Herrschaft.
    4. Er suchte nach einem Weg, doch noch das Gute in den Menschen freizusetzen und kam dabei auf die Idee der sogenannten „ästhetischen Erziehung“.
    5. Die Idee war ähnlich wie in der Antike: Das Theater soll etwas mit den Menschen machen, in ihnen bewirken.
      Im Unterschied zur Antike

      • sollte aber nicht das Schreckliche im Menschen Schrecken und Furcht und damit auch Gehorsam gegenüber den göttlichen Gesetzen bewirken,
      • sondern es sollten Menschen gezeigt werden, die in schreckliche Situationen geraten, dies Schicksal aber annehmen und dann als „schöne Seele“ untergehen.
    6. Schiller glaubte, dass das dann zum Vorbild für die Zuschauer wird – und es auch innerlich eine Veränderung zu mehr „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ bewirkt.
Anregung zum Nachdenken und Diskutieren

Jeder kann ja mal für sich selbst überlegen,

  • ob er es schon mal erlebt hat – bei sich selbst oder bei anderen – dass die heldenhafte Bewältigung des Schicksals durch einen anderen Menschen bei ihm zumindest kurzzeitig oder auch längerfristig zu mehr Menschlichkeit und Güte geführt hat.
  • In diesem Zusammenhang kann man überhaupt auch die Frage von (guten) Vorbildern diskutieren.
  • Provokante These von uns:
    Wir haben es noch nie erlebt, dass Menschen aus dem Theater rauskamen und dann besser verhalten haben als vorher.
  • Ergänzung:
    Wohl haben wir es nach einem entsprechenden Film, dass das dort präsentierte Schicksal eines Menschen tatsächlich ein Mitgefühl erzeugt hat, das sich vielleicht auch danach noch einige Zeit beim Umgang mit anderen Menschen ausgewirkt hat.
Genauere Ausführung der Gedanken Schillers:
  • Schiller hat seine Vorstellung von einer positiven Wirkung eines entsprechenden Theaters so gesehen:
  • Für ihn ging es um
    • Harmonie zwischen Vernunft und Gefühl bzw.
    • zwischen Pflichterfüllung und persönlicher Neigung.
  • Wenn das gelingt, dann zeigt ein Mensch „Grazie“.
    • Dieser Begriff ist heute meistens auf die äußerliche Präsentation eines Menschen bezogen. Er zeigt einen der Situation entsprechenden Gesichtsausdruck und eine Körperhaltung, die man einfach als harmonisch und damit auch nachahmenswert empfindet.
    • Schiller versteht mehr darunter: Für ihn ist Grazie „die Schönheit der durch Freiheit bewegten Gestalt„.
    • Dabei kann es um eine verhältnismäßig einfache Sache gehen, bei der man nur alles um sich herum vergessen muss – in Konzentration auf die Aufgabe, siehe „Anmut“.
    • Oder aber man erreicht diese Haltung erst nach innerem Kampf, siehe „Würde“.
  • Eine große Rolle spielen dabei für Schiller die Wörter
    • Anmut ist dabei eine besondere Form der Schönheit.
      • Nötig ist mehr als natürliche Schönheit.
      • Zu ihr gehört auch, dass man eine Aufgabe so erledigt, dass es einfach gut und harmonisch aussieht.
      • Das spielt besonders im Pferdesport eine Rolle. Wenn man davon ausgeht, dass Reiter oder Reiterin wirklich ein gutes Verhältnis zum Pferd haben, dann kann es im Idealfall dazu kommen, dass alle sagen: Wow, was das für eine Einheit, einfach schön.
      • Besonders hier, wo zwei Lebewesen gemeinsam eine Aufgabe möglichst graziös bewältigen, wird deutlich, dass es nicht reicht, dass sowohl die Reiterin als auch das Pferd jeweils auf ihre Art und Weise natürlich schön sind.
    • Würde
      • Würde zeigt zwar das gleiche Ergebnis wie die Anmut.
      • Aber hier ist die Harmonie erst dadurch möglich geworden, dass man eine unangenehme Aufgabe so erledigt, dass man den Eindruck hat, der Betreffend steht wirklich dahinter.
        • Er muss sie also vorher für sich angenommen haben.
        • Im Unterschied zur „schönen Seele“, bei der die Harmonie auch durch einen weniger gigantischen Kampf gegen sich selbst erreicht werden kann, zeigt sich bei der „Würde“ etwas, was Schiller „erhabene Gesinnung“ nennt.
        • Das bedeutet, dass jemand gewissermaßen moralische Größe erreicht hat. Ein Beispiel wäre etwa, wenn man jemandem eine ziemlich üble Sache vergibt, weil man erkannt hat, dass er oder sie es aufrichtig bereut.
          Jeder, der schon mal in so einer Situation war, weiß, wie schwer es ist, die Reste von Zorn, Abneigung und vielleicht sogar Hass in sich selbst zu überwinden.
        • Eine kleine Variante kann jeder mal selbst ausprobieren, zum Beispiel wenn er eine umfangreiche Hausaufgabe bekommt, die er – menschlich verständlich – erst mal ablehnt, dann aber nach einigem Nachdenken annimmt und das Beste draus macht.
        • Oder ein guter Freund muss ein Date absagen – und dann schmollt man nicht lange rum, sondern akzeptiert es und gibt dem Freund das Gefühl, dass man Verständnis hat und er sich weiter keine Gedanken darum machen muss.
Beispiel „Maria Stuart“
  • Ein gutes Beispiel für eine „schöne Seele“, die sich zu Würde und Erhabenheit durchringt, ist die Titelfigur in Schillers Drama „Maria Stuart“.
  • Im Bühnenstück ist sie als schottische Königin und Konkurrentin der englischen Königin Elisabeth in deren Gewalt.
  • Deutlich wird ihre leidenschaftliche und auch recht unvernünftige, wenn nicht sogar unmoralische Vergangenheit, sogar belastet mit schwerer Schuld. Zumindest ist das der Vorwurf.
  • Maria nimmt ihr Schicksal, nämlich die drohende Hinrichtung, schließlich an und ist bereit, sich mit „entschlossener Seele“ dem Jenseits zuzuwenden.
  • Damit ist die Harmonie zwischen Pflicht (sich dem Unvermeidlichen zu ergeben) und Neigung (verständlicher Wunsch, Gerechtigkeit in ihrem Sinne zu erreichen und am Leben zu bleiben) erreicht.
Beispiel „Iphigenie“
  • Goethe war weniger auf heftige Tragik aus als Schiller. Er liebte ein gutes Ende.
  • Seine „Iphigenie“ ist zwar auch Opfer des Schicksals und muss – weit von der griechischen Heimat entfernt – dem Barbarenkönig Thoas als Priesterin dienen.
  • Aber ihre Ausgangssituation ist schon eine weitgehende Harmonie zwischen Pflicht und Neigung. Sie sehnt sich zwar nach der Heimat, denkt aber nicht an Flucht und erfüllt die ihr aufgetragenen Pflichten und erreicht in ihrer Umgebung viel Gutes.
  • Zum Beispiel wird die Opferung aller Menschen abgeschafft, die als Fremde unerwünscht an Land kommen.
  • Die Situation Iphigenies ändert sich, als zwei Fremde auftauchen und sich dann herausstellt, dass einer davon ihr Bruder Orest ist.
  • Dieser und sein Freund Pylades entwickeln Fluchtpläne. Die können nur durchgeführt werden, wenn Iphigenie König Thoas zunächst hinhält und letztlich durch die gemeinsame Flucht betrügt.
  • Aus eigenem Willen heraus entschließt sie sich aber, die Wahrheit zu sagen – in der Hoffnung, dass der König das anerkennt.
  • Damit zeigt Iphigenie sich als schöne Seele, denn sie bringt ihre innere Moral und ihr äußeres Verhalten in Einklang.
  • Was meistens übersehen wird, ist dass die viel größere Würde bei König Thoas zu finden ist. Denn der muss einen viel größeren Schritt in Richtung Menschlichkeit gehen. Er verzichtet am Ende auf alle Ansprüche – nur damit die drei Griechen glücklich in die Heimat zurückkehren können.
  • Man sieht also: Es muss nicht um Leben und Tod gehen, um zu einer schönen Seele her heftigeren Art zu werden. Einfach weil man nicht nur innere Gefühle und äußere Haltung zusammenbringt, sondern sogar noch über seinen Schatten spricht. Am Ende ringt sich König Thoas sogar von einem „So geht!“ zu einem „Lebt wohl!“ durch. Mehr an Selbstüberwindung geht nicht.
Die schöne Seele nach der Weimarer Klassik
  • Die Zeit des Idealismus ging mit Schiller und Goethe und einigen Nachfolgern im 19. Jhdt zu Ende.
  • Die Schriftsteller der Zeit nach der Klassik bis in unsere Gegenwart hinein (siehe den Hinweis am Anfang)
    • mögen sich zu einem solch hohen Maß an Harmonie nicht durchringen.
    • Auch in der Schule wird Büchners „Woyzeck“ meistens im Hinblick auf sein Schicksal besprochen. Wir selbst sehen das ganz anders: Unsere Sympathie gehört nicht dem brutalen Täter, der seine Mordaktion sogar vorbereitet und nicht etwa im Affekt die Mutter des gemeinsamen Kindes regelrecht abschlachtet. Das mag im Wahnsinn geschehen sein, aber dann gehört es in die Psychiatrie und nicht in die Schule.
    • Nein: Unser Mitgefühl gehört ganz dieser Marie.
      • Ein Verbrechen kann es ja wohl kaum sein, wenn sie versucht, aus dem gemeinsamen Elend herauszukommen.
      • Natürlich hätte sie sich rein theoretisch offen von Woyzeck trennen können  – oder es zumindest versuchen.
      • Aber sie bemüht sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um Autonomie.
      • Das wird deutlich in ihrer Beschäftigung mit der Bibel, die aber – anders als bei Schillers schöner Seele – in der Feststellung endet: Ich kann mich nicht anders verhalten, als mein Glück auch bei dem Tambourmajor zu versuchen.
      • Dort bekommt sie zumindest heimlich ein bisschen Anerkennung und und eine Ahnung von einem besseren Leben.
      • Woyzeck präsentiert sich aber geradezu als Gegenstück zur schönen Seele. Nicht mal das Bemühen um Verständnis und Gerechtigkeit ist spürbar.
„Der gute Mensch von Sezuan“
  • Wenn es um das Bemühen geht, „edel, hilfreich und gut“ zu sein, fällt einem schnell Brechts Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“ ein.
  • Das Ganze ist zwar eine Parabel, also eine bildhafte Geschichte, in der gezeigt werden soll,
    • wie ein guter Mensch sich verhält, zum Beispiel als einziger fremde Gäste aufnimmt. Alle anderen lehnen ab, denken nur an sich.
    • in welche Schwierigkeiten dieser Mensch kommt,
    • wie er eine Lösung findet, die zunächst einmal strenger mit den Mitmenschen umgeht,
    • letztlich aber doch Gutes bewirkt
    • und am Ende doch in der Gefahr ist, unterzugehen mit allen guten Ideen und Projekten.
  • Aber diese Shen-Te als Parabelfigur bemüht sich zumindest, kämpft mit sich und findet eine Lösung, die im Rahmen des Möglichen gut erscheint.
  • Brecht lässt sie aber doch am Ende scheitern, weil er deutlich machen will: Es reicht nicht, selbst gut zu sein oder sich zu bemühen. Die Verhältnisse müssen geändert werden.
  • Man könnte jetzt sagen: Der Verfasser präsentiert sich in diesem Stück als „schöne Seele“ – zumindest teilweise. Denn statt seine politischen Lösungsideen einzubringen, die stark marxistisch geprägt sind, begnügt er sich mit der Darstellung eines guten Menschen in schlechten Verhältnissen – und überlässt die Lösung den Zuschauern. Besser kann Literatur sich nicht präsentieren, ohne zu einer Meinungsäußerung oder gar zu Propaganda zu werden.
  • Und all denen, die sagen: Das ist nur ein Trick, in Wirklichkeit lässt dieses Stück nur marxistische Lösungen zu. Denen sei gesagt, dass in dem Drama nicht in erster Linie kapitalistische Verhältnisse gezeigt werden, sondern die grundsätzliche Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, in der Regel erst mal egoistisch zu sein. Das ändert sich auch nicht, wenn eine marxistisch orientierte Regierung an der Macht ist.
  • Aber zum „real existierenden Sozialismus“ gehörte ja auch überall in der Welt der Versuch, die Menschen zu erziehen.
  • Damit sind wir bei einem zentralen Thema, über das zu diskutieren sich lohnt: Wie erreicht man letztlich das, was Schiller für den Einzelmenschen wollte – und was Brecht durch eine Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse unterstützen wollte.
  • Interessant dabei, dass Brecht von seinen Kritikern im persönlichen Verhalten durchaus mehr Egoismus vorgeworfen wird, als es möglicherweise dem Durchschnitt der Menschheit entspricht.