Lessing, „Nathan der Weise“ – Die Schattenseiten des Theater-Auswegs 

Worum es hier geht:

Wir hatten immer schon einiges an Lessings „Nathan der Weise“ zu kritisieren.
Näheres findet man hier:
https://schnell-durchblicken.de/baustein-lessing-nathan-kritik

Aber glücklicherweise kommt man ja bei literarischen Texten immer noch auf einen weiteren Verständnispunkt – in gewisser Weise haben sie das Potenzial, unerschöpflich zu sein.

In diesem Falle war es ein Gespräch mit unserem Referenz-Schüler Latus Crux, das uns klar gemacht hat, welchen Preis Lessing und am Ende auch wir als Leser bzw. Zuschauer dafür zahlen müssen, dass dieser Ausweg aus dem Publikationsverbot genommen werden musste.

  • Statt eines argumentativen Sachtextes ein Theaterstück zu verfassen, ist grundsätzlich schon mal nur eine Notlösung, ansonsten keine gute Idee.
  • Denn wenn Literatur „tendenziell“ wird, also uns etwas nahebringen will, was dem Autor wichtig ist, hängt sie sich einen Kunstmantel um, der sie vor kritischen Nachfragen schützt, zugleich aber eine Verbesserung der Ausgangs-Wahrheit verhindert oder zumindest behindert.
  • Das dürfte Lessing eigentlich nicht gefallen, der ja mal laut getönt hatte, statt der ultimativen Wahrheit möchte er von Gott lieber die ständige Suche danach haben. Das bedeutet ja wohl ständige Infragestellung und einen potenziellen Erkenntnisfortschritt.
  • Bei Lessings Dramenlösung kommen noch weitere unschöne Dinge hinzu, die einfach mit dem Gattungscharakter zu tun haben.
    • Man braucht einen Bösewicht – dummerweise hat Lessing da mit dem Patriarchen einen der drei Religionsvertreter gewählt – sieht nicht nach Ausgewogenheit aus.
    • Daja hat auch das Problem, in einer ziemlich blöden Situation zu sein, denn sie muss ihre Freundin Recha ständig anlügen. Sie kennt deren wahre Religionszugehörigkeit und muss sich dann auch noch beschimpfen lassen, als sie gerne mit der Freundin und dem Tempelherrn dieses Lügenhaus verlassen möchte.
    • Und Recha – nun ja, die ist so von Nathan fasziniert, dass sie ihm das verzeiht, was in keinem normalen Spielfilm so durchgehen würde. Dort sind die Adoptivkinder, die zu spät erfahren, dass sie die falschen Menschen als echte Eltern geliebt haben, in der Regel ganz schön böse.
    • Aber diese Recha scheint den Tempelherrn auf eine Art geliebt zu haben, dass Ehemann oder Bruder ziemlich das Gleiche ist. Vielleicht war es da sogar besser, dass der Tempelherr rechtzeitig aus der Ehenummer raus kam.
    • Am schlimmsten ist der Schlussteil, wo Nathan entweder aus ziemlich mieser Egozentrik den Tempelherrn zappeln lässt, statt ihn „aufzuklären“ – oder aber – was wahrscheinlicher ist – Lessing brauchte als Theaterdichter einen knalligen Schluss, bei dem normalerweise die beiden, die sich nicht mehre lieben dürfen, weinend zusammenbrechen würden – hier aber nicht: Sie sind ja jetzt Teil der Menschheitsfamilie.
    • Alles nicht so schlimm, ja wenn dieses Stück nicht ernst gemeint ist mit seiner Aussage, aber auch mit dem Treiben des angeblich so weisen und damit vorbildlichen Nathan.
    • Damit schließt sich der Kreis: Lessing ist nur zu rechtfertigen, wenn man ihm ähnlich wie der Bühnenfigur Nathan beim Sultan einfach zugesteht, dass er ausweichen musste – und das kostet immer auch Opfer. Wenn Brecht so ein Stück geschrieben hätte, dann hätte er wenigstens wie in „Der gute Mensch von Sezuan“ einen Epilog angehängt
      • zum einen für die, die es irgendwie gemerkt haben, dass da vorn (Lüge) bis hinten (Nathans Enthüllungs-Show) was nicht stimmt. Die gehen beglückt nach Hause mit dem Gefühl: „Ich bin dem Lessing nicht auf den Leim gegangen.“
      • Zum anderen, die den Nachhauseweg dringend für die Beantwortung der Frage brauchen: Was sollte dieser Epilog – war doch so ein schönes Stück – genauso, wie es im Theaterführer stand.

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