Peter Weiss, „Die Ermittlung – der Versuch, mit Mitteln der Literatur die Frage der Mitschuld an einem Massenmord zu beantworten

Worum es hier geht:

  • Präsentiert wird eine Übersicht über verschiedene Aspekte eines bekannten Theaterstücks aus dem Jahr 1965.
  • Das Besondere: der historische Kontext, nämlich der erste große Frankfurter Auschwitz-Prozess. Dort wurde – viele Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik versucht, individuelle Schule juristisch zu werden und ggf. auch zu bestrafen.
  • Weiss nutzte diesen Prozess, um daraus ein besonders Stück Theater zu machen.
  • ‚Es handelt sich um „dokumentarisches Theater“ – also ein Stück Literatur, das auf eigene Art und Weise versucht, eine durchaus vorhandene faktische Realität künstlerisch zu verarbeiten.
  • Das führte letztlich zu dem Titel: „“Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“.

Allgemeine Vorstellung, Thematik und Entstehung

  • Das Theaterstück Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen wurde von Peter Weiss im Jahr 1965 verfasst. Es behandelt den ersten Frankfurter Auschwitzprozess, der sich von 1963 bis 1965 erstreckte.
  • Thematisch setzt sich das Werk mit dem Zivilisationsbruch des Holocaust auseinander und beleuchtet die individuellen sowie kollektiven Schuldfragen der Deutschen. Zentral ist dabei die Sichtbarmachung der deutschen Verbrechen und die Darstellung des Konzentrationslagers als die letzte, fürchterlichste Konsequenz eines ausbeuterischen kapitalistischen Systems.
  • Weiss entwickelte sein Stück direkt aus dem realen Geschehen: Er nahm selbst als Zuschauer am Auschwitzprozess teil und stützte sich maßgeblich auf die Protokolle und die vorbildlichen Prozessberichte von Bernd Naumann in der FAZ. Weiss konzentrierte die Dialoge von 180 Verhandlungstagen, sprachlich gereinigt und thematisch geordnet, auf etwa 200 Textseiten.
  • Ursprünglich war Die Ermittlung als Teil eines umfassenderen „Welttheater“-Projekts konzipiert, das sich an der dreiteiligen Struktur von Dantes Göttlicher Komödie (Hölle, Fegefeuer, Paradies) orientierte. Ironischerweise sollte Die Ermittlung dem „Paradiso“ entsprechen, wobei das Paradies hier zum Ort der Verzweiflung für die Leidtragenden wird.
  • Die Uraufführung fand am 19. Oktober 1965 als Ring-Uraufführung zeitgleich an fünfzehn west- und ostdeutschen Theatern sowie bei der Royal Shakespeare Company in London statt. Das Stück stellte in der Spielzeit 1965/1966 das meistgespielte Gegenwartsstück der Bundesrepublik dar.

Überblick über den Inhalt und Entwicklung des Konflikts

Das Stück ist formal als Oratorium in 11 Gesängen angelegt. Ein Oratorium ist traditionell eine dramatische Erzählung religiösen Inhalts, die Erlösung und Rettung thematisiert; in Weiss‘ Werk wird diese Erwartung durch das Holocaust-Geschehen, das jegliche Rettung ausschließt, konterkariert.

Die elf Gesänge sind thematisch überschrieben und folgen dem Leidensweg der Opfer von der Ankunft bis zur Vernichtung:

  1. Gesang von der Rampe
  2. Gesang von der Aufnahme (im Lager)
  3. Gesang von der Schaukel (Folter)
  4. Gesang von der Möglichkeit des Überlebens
  5. Gesang vom Ende der Lilly Tofler (individuelles Schicksal)
  6. Gesang vom Unterscharführer Stark
  7. Gesang von der schwarzen Wand (Erschießungen)
  8. Gesang vom Fenol (Tötung durch Injektionen)
  9. Gesang vom Bunkerblock
  10. Gesang vom Zyklon B (Gaskammern)
  11. Gesang von den Feueröfen.

Im Prozess stehen sich 18 Angeklagte (identifizierbare SS-Männer) und neun anonymisierte Zeugenfiguren (1–9, ehemalige Häftlinge oder Helfer) gegenüber. Die Zeugenberichte sind nüchtern, sachlich und weitgehend emotionslos gehalten, um eine Reduktion auf das Konzentrat der Fakten zu erreichen. Die Aussagen der Zeugen, die von der Massenvernichtung bis hin zu grausamen Details wie medizinischen Experimenten, Folterungen („Schaukel“) und Phenol-Injektionen berichten, werden durch die Entlastungsrhetorik der Angeklagten begleitet.

Entwicklung des Konflikts (Täter vs. Opfer):

Der zentrale Konflikt entwickelt sich aus dem Gegensatz zwischen den erschütternden Zeugenaussagen und den abwehrenden Verteidigungsstrategien der Angeklagten. Die Angeklagten versuchen, ihr Handeln abzustreiten, zu verharmlosen oder zu rechtfertigen.

Häufig genannte Entlastungsstrategien sind:

  • Einfaches Leugnen der Taten oder Beschwerden über die Anschuldigungen.
  • Rechtfertigung mit soldatischer Pflicht und Aufrechterhaltung der Ordnung.
  • Reduktion der eigenen Tätigkeit auf eine Teilfunktion („ich war nur dort, um…“; „ich hatte nur meine Pflicht zu tun“).
  • Unkenntnis über den Gesamtzusammenhang oder Verlust der Erinnerung.
  • Behauptung der Verjährung der Verbrechen.

Die Angeklagten inszenieren sich oft selbst als Opfer. Im Gegensatz dazu betonen die Zeugen die gesellschaftliche Verantwortung und die Wahlmöglichkeiten des Individuums, selbst unter den Bedingungen der Diktatur. Der Zeuge 3 erklärt, dass die im Lager geltende Ordnung in ihrer Anlage aus der Gesellschaft stammte, aus der das Regime hervorgegangen war, und die Ausbeutung dort ihre letzte Konsequenz fand.

Weiss präsentiert die Widersprüche so, dass die Zuschauer permanent zu eigenen Wertungen gezwungen werden. Das Stück endet ohne einen Richterspruch und bleibt bewusst offen. Dies zwingt das Publikum, selbst das Urteil zu fällen und sich zur geforderten Amnesie der Taten zu verhalten. Angeklagter 1 fasst die Täterhaltung am Ende zusammen, indem er betont, man habe nur seine Schuldigkeit getan und man solle sich heute, da die Nation wieder eine führende Stellung habe, mit anderen Dingen befassen, als mit Vorwürfen, die längst als verjährt gelten müssten. Dieses Leugnen und Verdrängen thematisiert den Komplex der „zweiten Schuld“ in der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

Das Besondere des Stückes im Rahmen des dokumentarischen Theaters

Das dokumentarische Theater behandelt politische oder soziale Ereignisse und nutzt juristische oder historische Dokumente als Quellen. Das Ziel ist die politische Aufklärung und Agitation.

Die Ermittlung gilt als eines der wichtigsten zeitgenössischen Textbeispiele des Genres. Das Besondere an Weiss’ Vorgehen ist:

1. Reduktion und Faktizität (Orientierung an den Fakten)

Weiss verzichtet auf psychologische Elemente und emotionale Ausgestaltung. Er plädierte gegen eine realistische Darstellung und für die Reduktion auf das Konzentrat der Fakten, da der Stoff an sich emotionalisierend war. Das Bühnenbild sollte sich auf einen nüchternen Gerichtssaal beschränken, um jede Ablenkung von den Zeugenberichten zu vermeiden.

2. Sprachliche Nüchternheit und Verfremdung:

Der Text verwendet einen klaren, überschaubaren Satzbau ohne jegliche Interpunktion, gesetzt wie ein reimloses Epos. Durch diese Nüchternheit und die Verfremdungseffekte wird das Geschehen sachlich vermittelt, um eine intensivere dramaturgische Wirkung auf den Zuschauer zu erzielen.

Anregung: Diese Art der Verfremdung kann man gut mit dem Konzept Brechts vergleichen (episches Theater).

3. Universalisierung des Leidens:

Um die Übertragbarkeit des Themas, also seine Universalisierung, für andere Orte, Ethnien und Zeiten zu erleichtern, verzichtete Weiss fast im gesamten Stück auf das Wort „Jude“. Diese Strategie appelliert an die Rezipienten, Vergleiche mit der Gegenwart herzustellen.

Dies erscheint uns besonders wichtig, denn die Gefahr ist sehr groß, dass moralische Erziehung sich auf einen Punkt konzentriert und dann andere massenhafte oder sogar systematische Verstöße gegen die Menschlichkeit, aus dem Auge zu verlieren.

Ein wesentliches Argument für eine solche Einbeziehung ist, dass man sich bei aktuellen Phänomenen viel besser informieren kann über die jeweils gegebenen Hintergründe, Zusammenhänge und den Umgang damit.

Besonders hilfreich für ein erstes Verständnis der Besonderheit dieses Völkermords liefert der Film „Hotel Ruanda“:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hotel_Ruanda

4. Montage statt Fiktion:

Die schöpferische Leistung besteht in der Komposition des Roh-Stoffes und der Konzentration aufs Wesentliche. Durch die kontrapunktische Montage und thematische Ordnung der Aussagen wird die Widersprüchlichkeit der Täter und die gesellschaftliche Tragweite des Verbrechens hervorgehoben. Dies bewirkt, dass die Zuschauer auf die Vielschichtigkeit des Ereignisses aufmerksam gemacht werden.

Obwohl das dokumentarische Theater Authentizität beansprucht, bleibt es eine künstlerische Konstruktion. Kritiker merkten an, dass Weiss‘ gewähltes ästhetisches Verfahren dem Zuschauer die grundsätzliche Deutungsfreiheit beraubte. Dennoch ist es Weiss gelungen, aus Fragmenten der Wirklichkeit ein verwendbares Modell aktueller gesellschaftlicher Vorgänge zu erzeugen.

Impulse für den heutigen Deutschunterricht

Die Ermittlung wird auch heute noch als wichtiges Werk angesehen und bietet sich zur Bearbeitung des Themas Nationalsozialismus an, da es nicht an Relevanz verliert.

1. Aufklärung, Erinnerungskultur und Zeitbezug:

  • Auseinandersetzung mit der „Zweiten Schuld“: Analyse der Verdrängungsmechanismen und der apologetischen Argumentation der Angeklagten in der Nachkriegsgesellschaft. Dies ermöglicht eine Diskussion über die historische Verantwortung und die heutige Erinnerungskultur.
  • Aktualitätsbezug: Diskussion über die mahnende Botschaft des Stücks angesichts heutiger Diktaturen, Kriege, massiver Menschenrechtsverletzungen und Foltergefängnisse, wie von Teilnehmern einer Lesung 2016 betont. Die Aufforderung: „Wehret den Anfängen“.
    Anregung: Besonders hier kann eine entsprechende Recherche mit anschließendem Referat hilfreich sein.
    Gut dokumentiert ist zum Beispiel der Völkermord in Ruanda, den man zwar in Ausmaß und Erscheinungsformen nicht vergleichen kann mit dem Holocaust. Dafür ist die Gefahr, der Aufwiegelung eines ganzen Volkes zu schlimmsten Verbrechen an einer anderen Gruppe im Land aber besonders groß.
  • Analyse der Täter-Rhetorik: Untersuchung der Entlastungsstrategien (z. B. Leugnen, Pflicht, Reduktion der Tätigkeit auf Mikrofunktionen). Dies kann helfen, Mechanismen der Verantwortungslosigkeit zu erkennen, die auch in aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Kontexten relevant sind.

2. Formale und ästhetische Analyse:

  • Dokumentarisches Verfahren: Erörterung, inwiefern die Montage, die sprachliche Reduktion auf das „Konzentrat der Fakten“ und der Verzicht auf Interpunktion die Wirkung des Stücks beeinflussen. Es kann untersucht werden, wie Weiss „ungeschmücktes Material für das Urteil der Zuschauer“ liefert.
  • Spannungsfeld Universalität vs. Spezifität: Erörterung der Entscheidung von Weiss, das Wort „Jude“ weitgehend wegzulassen, und die damit verbundene Intention der Universalisierung des Leidens.

3. Handlung und Wirkung:

  • Kapitalismuskritik: Analyse der Verwebung von Holocaust und Gesellschaftskritik, indem das KZ als letzte Konsequenz des ausbeuterischen Kapitalismus dargestellt wird und die Verstrickung der deutschen Großindustrie aufgezeigt wird.
  • Das Offene Ende und die Rolle des Zuschauers: Diskussion darüber, warum das Stück ohne Richterspruch endet und wie der Zuschauer durch die Inszenierung zur aktiven Stellungnahme und zum Engagement herausgefordert wird.
  • Szenische Lesungen: Durchführung von szenischen Lesungen im Unterricht, wie es 2016 in der Bremischen Bürgerschaft mit Vertretern der Stadtgesellschaft praktiziert wurde. Dies kann gerade jungen Menschen helfen, sich die Bildungsgüter und die Auseinandersetzung mit dem Thema anzueignen.

Zusammenfassend bietet Die Ermittlung im Deutschunterricht die Möglichkeit, nicht nur ein historisches Ereignis zu behandeln, sondern auch tiefgehende Fragen der Moral, der Sprache und der gesellschaftlichen Verantwortung im Kontext eines einzigartigen literarischen und theatralischen Formats zu untersuchen.

Weitere Infos, Tipps und Materialien