Worum es hier geht:
Um zu beurteilen, inwieweit der Roman als „Jahrhundertroman“ bezeichnet werden kann, müssen wir den Umfang und die Darstellung historischer Informationen in den einzelnen Kapiteln kritisch prüfen.
Ein „Jahrhundertroman“ wird gemeinhin als ein Werk verstanden, das die historischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen eines Jahrhunderts umfassend und oft chronologisch darstellt.
Betrachtet man die Informationen in den Quellen, so deckt der Roman tatsächlich einen sehr breiten historischen Bogen ab:
- Der Prolog: Beginnt mit einer erdgeschichtlichen Perspektive, die sich über Zehntausende von Jahren erstreckt und die Naturgeschichte der Landschaft beschreibt (z.B. die Eiszeit vor 24.000 bis 13.000 Jahren v. Chr.). Dies legt einen Rahmen der Vergänglichkeit und Belanglosigkeit menschlicher Existenz im Angesicht großer Naturentwicklungen fest.
— - „Der Großbauer und seine vier Töchter“: Dieses Kapitel ist explizit auf das Jahr 1892 datiert, als Gretes Verlobter am 16. November 1892 in Melbourne/Australien eintrifft. Es beschreibt detailliert alte Hochzeitsbräuche und das Schicksal der Töchter vor dem Hintergrund der ländlichen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts.
— - Die „Gärtner“-Kapitel: Der Gärtner selbst wird als eine geheimnisvolle, scheinbar zeitlose Figur eingeführt, über deren Herkunft niemand etwas weiß und die „immer schon da“ zu sein scheint. Allerdings werden durch seine Tätigkeiten auch spezifische historische Ereignisse gestreift:
- Die Ausbreitung des Kartoffelkäfers in den Jahren 1936, 1937 und 1938 wird genau datiert.
- Es wird erwähnt, dass Schmeling den Boxer Louis k.o. geschlagen hat, was auf die späten 1930er Jahre verweist.
- „Der Architekt“: Dieses Kapitel spielt sechs Jahre nach Kriegsende, also um 1951, und schildert die Flucht des Architekten aus der Ostzone nach West-Berlin aufgrund drohender Enteignung und einer Haftstrafe. Seine Erinnerungen umfassen auch den Ersten Weltkrieg (Luftschiffabsturz) und den Zweiten Weltkrieg (Verdunkelung des Hauses). Die Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer und der Kauf des Badehauses von Juden, sowie die Zahlung einer „Entjudungsgewinnabgabe“, verankern diesen Teil klar in der nationalsozialistischen Ära.
— - „Der Tuchfabrikant“: Fokussiert auf die Jahre 1936 und 1939, als die Familie nach Kapstadt emigriert und ihr Eigentum verkauft wird, um die Ausreise zu finanzieren. Das Kapitel schildert das tragische Schicksal von Arthur und Hermine, Ludwigs Eltern, die 1942 in Kulmhof in einem Gaswagen ermordet werden, sowie den Tod des Schwagers Ernst durch Fleckfieber während der Zwangsarbeit.
— - „Das Mädchen“ (Doris): Die Geschichte von Doris ist explizit im Sommer 1942 in Warschau, im Ghetto, angesiedelt. Ihre Erinnerungen reichen bis in ihre Kindheit in Guben zurück. Dieses Kapitel stellt eine erschütternde Darstellung der Holocaust-Zeit dar.
— - „Die Schriftstellerin“: Die „Gegenwart“ der Schriftstellerin ist nach der Rückkehr aus der Emigration in der DDR-Zeit angesiedelt, etwa „zwanzig Jahren“ nach Kriegsende, was auf die 1960er/70er Jahre hindeutet. Ihre Rückblicke umfassen ihre Zeit im sowjetischen Exil während des Zweiten Weltkriegs und ihre Bemühungen, den neuen sozialistischen Staat mitzugestalten, während sie gleichzeitig mit dessen Realitäten (Bürokratie, Enteignung, „unsichtbare Armee“) kämpft.
— - „Die Besucherin“: Ihre Erinnerungen umspannen eine noch längere Zeit, von ihrer Jugend in Masuren, der Heirat mit einem „Dahergelaufenen“ und der Inhaftierung im Backofen durch ihre Mutter bis hin zu den Kriegszeiten (Verletzung des Mannes im „Kleereiber“) und der Nachkriegszeit, in der sie als alte Frau ihre Enkelin in der Sommerfrische besucht, die den Sohn der Hausherren geheiratet hat. Ihre Lebensspanne reicht somit vom Kaiserreich bis in die Zeit nach der Wende.
— - „Die Unterpächter“: Ihre Geschichte beginnt in der Nachwendezeit („nach dem Fall der Berliner Mauer“), als sie mit Restitutionsansprüchen und der Nutzung des Grundstücks zu tun haben. Ihre Jugend ist jedoch von der DDR-Zeit geprägt, mit einem gescheiterten Fluchtversuch über die Elbe und einer Gefängnisstrafe.
— - „Der Kinderfreund“: Seine Erinnerungen reichen von der Kindheit mit der Tochter des Architekten bis in die Nachwendezeit, in der er Pfusch-Arbeiten übernimmt. Seine Erfahrungen umfassen auch die Zeit der Grenzöffnung und deren Folgen (Tod des Freundes Daniel in der Karibik).
— - „Die unberechtigte Eigenbesitzerin“: Dies ist die Tochter oder Schwiegertochter des Architektenpaares. Ihr Kapitel ist klar in der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung angesiedelt, da es um Restitutionsansprüche, Räumungsverhandlungen und den Verkauf des Hauses geht. Sie verarbeitet ihre Kindheitserinnerungen im Haus vor dem Hintergrund der nun leeren und zum Abriss bestimmten Gebäude.
Kritische Prüfung der Bezeichnung „Jahrhundertroman“:
Obwohl der Roman in seinen verschiedenen Episoden eine beeindruckende Bandbreite historischer Epochen des 20. Jahrhunderts – von den späten 1800ern bis in die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung – streift und damit die Lebensspanne eines Jahrhunderts abdeckt, gibt es mehrere Aspekte, die seine Bezeichnung als „Jahrhundertroman“ im konventionellen Sinne relativieren:
- Fehlende Chronologie:
Der Kommentar vermerkt explizit, dass die Autorin „sich nicht mal die Mühe gemacht hat, das Ganze in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen“. Es gibt Sprünge in der Zeitlinie, so ist beispielsweise die Kartoffelkäfer-Plage auf 1938 datiert, während das vorhergehende Kapitel über den Architekten bereits 1951 spielt. Dies widerspricht einer linearen, umfassenden historischen Erzählung.
— - Schwerpunkt: sehr individuelle Geschichten:
Anstatt einen breiten gesellschaftlichen Überblick zu geben, taucht der Roman tief in individuelle Schicksale und Erinnerungen ein. Die großen historischen Ereignisse (Krieg, Holocaust, DDR, Wende) werden oft durch die sehr persönliche und subjektive Brille einzelner Figuren erlebt und reflektiert.
— - „Belanglosigkeit menschlicher Existenz“:
Der Kommentar zum Kapitel „Der Großbauer…“ deutet an, dass der Roman die „Belanglosigkeit menschlicher Existenz vor dem Hintergrund großer Naturentwicklungen“ thematisiert. Dies legt nahe, dass der Fokus nicht primär auf der detaillierten historischen Entwicklung liegt, sondern auf der Widerstandsfähigkeit oder Fragilität des Menschen gegenüber zeitlichen und natürlichen Kräften.
— - Subjektive Zeitwahrnehmung:
Besonders in den Kapiteln der „Frau des Architekten“ und der „Besucherin“ wird die Zeit als fließend und nicht-linear empfunden. Die Frau des Architekten empfindet, dass „die Zeit ihr zur Verfügung zu stehen [scheint] wie ein Haus, in dem sie mal dieses, mal jenes Zimmer betreten kann“. Die Besucherin sagt, im Alter sei „alles gleichzeitig da“. Diese subjektive, anachronistische Zeitwahrnehmung der Charaktere ist ein grundlegendes Strukturprinzip, das einer objektiven, chronologischen Geschichtsdarstellung entgegensteht.
— - Andeutungen und Ambivalenzen:
Der Text begnügt sich oft mit „Andeutungen“, die für Leser, die mit den spezifischen historischen Kontexten nicht vertraut sind, „völlig unverständlich“ bleiben können. Dies mindert die universelle Zugänglichkeit und umfassende Erklärkraft, die man von einem „Jahrhundertroman“ erwarten könnte.
— - Der „Gärtner“ als Kontinuum:
Der Gärtner fungiert als eine Art Konstante über viele Jahrzehnte hinweg, fast als personifiziertes Element der Natur. Seine Präsenz überwindet die menschlichen Generationen und die spezifischen historischen Umbrüche, was die Idee eines „Jahrhundertromans“ als rein menschliche Geschichte relativiert.
Fazit:
- Der Roman ist insofern ein „Jahrhundertroman“, als er in seinen verschiedenen Perspektiven zahlreiche entscheidende historische Epochen des 20. Jahrhunderts in Deutschland und darüber hinaus (z.B. jüdische Emigration, Holocaust, Flucht aus der DDR, Nachwendezeit) beleuchtet und miteinander verknüpft.
- Er bietet ein facettenreiches Panorama menschlicher Erfahrungen in diesen Zeiten.
— - Jedoch tut er dies nicht in einer traditionell chronologischen oder umfassenden Weise.
- Stattdessen präsentiert er die Geschichte in einer fragmentarischen, subjektiven und oft anachronistischen Form, die stark von den individuellen Erinnerungen und der persönlichen Zeitwahrnehmung der Figuren geprägt ist.
- Die „kritische Prüfung“ zeigt, dass der Roman weniger ein lineares Geschichtsbuch ist:
- Stattdessen präsentiert er eher ein Mosaik von Lebensgeschichten, die sich lose über ein Jahrhundert erstrecken und dabei die tiefe Verflechtung von individuellen Schicksalen mit den großen historischen Umbrüchen aufzeigen.
- Dabei wird das Ganze nicht umfassend dargestellt und macht Geschichtsbücher bei weitem nicht unnötig.
- Man könnte sogar kritisch anmerken, dass man bei der Besprechung des Romans eher Geschichtswerke oder Geschichtskundige heranziehen muss, um den Roman überhaupt zu verstehen.
Das gilt besonders für das Schraubenproblem des Architekten. Das versteht man nicht ohne historische Kenntnisse zu den Besonderheiten kommunistischer Herrschaft.
- Insgesamt ist der Roman eher eine Ansammlung von Spuren, die das Jahrhundert in den Menschen und in einer bestimmten Landschaft hinterlässt, als eine chronologische Abhandlung über das Jahrhundert selbst.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Infos, Tipps und Materialien zum Roman „Heimsuchung“ von Jenny Erpenbeck
https://schnell-durchblicken.de/themenseite-heimsuchung
— - Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos
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