Analyse der Kommunikation in der Kurzgeschichte „Zuerst den Linken“ von Selim Özdogan (Mat2858-adk)

Worum es hier geht:

Die Kurzgeschichte, die wir auf den folgenden Seiten vorgestellt haben

ist auch sehr interessant im Hinblick auf die Kommunikation.

Hier die Auswertung im Hinblick auf das Vier-Seiten-Modell und die Axiome von Watzlawick

Allgemeines

Die Geschichte „Zuerst den Linken“ zeigt in Bezug auf die Kommunikation vor allem eines: dass das Ausbleiben einer erwarteten Information (Lärm) weitaus zerstörerischer wirken kann als die ursprüngliche Störung selbst, da es Raum für extreme Fehlinterpretationen der Beziehungsebene schafft.

Anwendung des Kommunikationsmodells von Schulz von Thun

Das Vier-Seiten-Modell (Nachricht = Sache, Selbstoffenbarung, Beziehung, Appell) zeigt, wie die gut gemeinte Handlung der Nachbarin beim Erzähler zu einer Katastrophe der Missdeutung führt.

Sachebene (Worüber ich informiere)

  • Definition: Die reine Sachinformation, die übermittelt wird.
  • Im Text: Die Sachinformation des ursprünglichen Konflikts ist klar: Zwei Geräusche, kurz nacheinander, immer wenn die Nachbarin nach Hause kommt, stören den Schlaf des Erzählers.
  • Der Kommunikationsfehler: Die Nachbarin möchte die Sachinformation korrigieren (kein zweites Geräusch mehr), aber ihre Methode führt zur Verwirrung. Sie legt den rechten Schuh leise daneben. Der Erzähler hat die Sachebene nicht klar empfangen, weil das erwartete zweite Poltern ausblieb. Die Stille selbst wird zum Sachverhalt, der interpretiert werden muss.

Selbstoffenbarung (Was ich von mir zu erkennen gebe)

  • Definition: Was der Sender über sich selbst (Gefühle, Bedürfnisse, Werte) preisgibt.
  • Erzähler (Sender der Beschwerde): Der Erzähler offenbart seine Empfindlichkeit und gleichzeitig seine Angst, als überempfindlich zu gelten. „Ich weiß, das mag jetzt kleinlich wirken, aber ich wache halt immer auf, wenn du vielleicht …“. Er zeigt damit seinen Wunsch nach Rücksichtnahme, aber auch seine innere Unsicherheit.
  • Nachbarin (Sender der Lösung): Die Nachbarin offenbart, dass sie rücksichtsvoll ist und ihr Versprechen halten möchte. „Ich hatte leider den linken Schuh so aus Gewohnheit schon in den Flur geschleudert, und dann fiel mir wieder ein, dass dich das stört, und so habe ich den rechten dann ganz leise danebengelegt.“. Sie zeigt, dass sie sich sofort an das vereinbarte Ziel (keine Störung) erinnert und ihr Verhalten aktiv korrigiert. Der Erzähler kann diese Selbstoffenbarung jedoch in der Nacht nicht erkennen und dichtet ihr das Gegenteil an.

Beziehungsebene (Was ich von dir halte/Wie wir zueinander stehen)

  • Definition: Wie der Sender zum Empfänger steht. Dies ist oft die Ebene, auf der die meisten Konflikte entstehen.
  • Wahrgenommene Beziehung (Nacht der Störung): Der Erzähler hört auf dem Beziehungsohr extrem negativ zu. Er interpretiert das Ausbleiben des zweiten Polterns als Missachtung und Verhöhnung. Die Nachbarin habe sich „einen Dreck scheren“ um ihr Versprechen.
  • Die Stille wird als aktive, böswillige Verletzung der Beziehung interpretiert: „Hätte sie doch gleich sagen sollen, dass ich mich anstellte, anstatt so zu tun, als würde sie meiner Bitte nachgeben.“. Die Wut des Erzählers entsteht nicht durch den Lärm (der ausblieb), sondern durch die Verletzung seiner Erwartungshaltung und die wahrgenommene Respektlosigkeit.

Appell (Was ich bei dir erreichen möchte)

  • Definition: Was der Sender vom Empfänger will.
  • Appell des Erzählers: Er bittet klar darum, die Lärmquelle abzustellen, damit er durchschlafen kann. Die Nachbarin versteht und antwortet: „Natürlich, kein Problem.“.
  • Der fehlgeschlagene Appell der Tat: Die Nachbarin handelt im Sinne des Appells (keine weitere Störung), aber da sie den ersten Schuh „aus Gewohnheit“ wirft, signalisiert sie dem Erzähler fälschlicherweise, dass der Appell ignoriert wurde. Ihr eigentlicher Appell, den der Erzähler nicht erkennt, ist: „Schlaf weiter, ich halte mein Wort.“

 

Prüfung der Axiome von Watzlawick

Die fünf Axiome der Kommunikation nach Watzlawick spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Eskalation des Konflikts:

Axiom 1: Man kann nicht nicht kommunizieren.

  • Rolle: Dieses Axiom ist der Schlüssel zur psychischen Eskalation in der Geschichte. Die Nachbarin trifft eine Entscheidung (den rechten Schuh leise abzulegen), die sie als Nicht-Handlung (kein Lärm) im Sinne des Appells versteht. Für den Erzähler ist diese Abwesenheit des Geräuschs jedoch eine extrem laute Kommunikation.
  • Beispiel: „Ich wartete auf das zweite Poltern, damit ich weiterschlafen konnte. Zwei, drei, vier Minuten der Stille.“. Die Stille kommuniziert für ihn eine Weigerung oder eine Provokation, was seine Wut erst auslöst und ihn wach hält: „Es blieb still, und ich blieb wach.“. Die Nicht-Kommunikation des zweiten Polterns führt zur maximalen Kommunikationsstörung.

Axiom 2: Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt.

  • Rolle: Der Beziehungsaspekt dominiert und zerstört die Inhalts-Ebene. Obwohl inhaltlich nur ein einziger Schuh geworfen wurde und die Störung objektiv minimiert war, eskaliert die Situation aufgrund der Beziehungsdeutung.
  • Beispiel: Die Wut des Erzählers ignoriert den Inhalt (weniger Lärm) und zielt direkt auf die vermutete Haltung der Nachbarin. Er unterstellt ihr bösen Willen, weil er sich in der Beziehung nicht respektiert fühlt: „dumme Kuh, erst sagen, kein Problem, und sich dann einen Dreck scheren um das eigene Geschwätz von heute Mittag, schmeiß.“. Er wünscht sich sogar den Lärm zurück, um die Beziehungshypothese (sie hält ihr Wort nicht) bestätigt zu bekommen.

Axiom 3: Kommunikation ist immer Ursache und Wirkung (Interpunktion).

  • Rolle: Der Konflikt entsteht durch die unterschiedliche Interpunktion (Festlegung von Anfang und Ende) der Kommunikationskette.
  • Interpunktion der Nachbarin: Sie sieht die Kette als: Beschwerde (Ursache) → Einsicht und Einhaltung (Wirkung). Für sie ist die Sache erledigt, indem sie den zweiten Schuh leise ablegt.
  • Interpunktion des Erzählers: Er erlebt die Kette als: Beschwerde (Ursache) → Erstes Poltern (Bestätigung der Missachtung) → Ausbleiben des zweiten Polterns (Provokation und fortgesetztes Leiden) → Meine Wut (Wirkung). Er sieht sich als Opfer einer verhöhnenden Haltung. Die Vorkommnisse werden so interpretiert, dass sie seine Rolle als Geschädigter bestätigen.

Axiom 4: Kommunikation bedient sich analoger und digitaler Modalitäten.

  • Rolle: Dieses Axiom zeigt die Kluft zwischen klarer Sprache und mehrdeutiger Handlung.
  • Digitale Kommunikation (Sprache): Ist klar und eindeutig, aber nur von kurzer Dauer. Die Nachbarin sagt: „Natürlich, kein Problem.“. Diese digitale Zusage versetzt den Erzähler in „entspannt eingeschlafen“.
  • Analoge Kommunikation (Handlung/Geräusch): Das Geräusch des ersten Schuhs ist analog und mehrdeutig. Es ist ein Signal für die Fortsetzung der alten Gewohnheit. Da die analoge Kommunikation die digitale Zusage (kein Lärm mehr) scheinbar widerlegt, wird das analoge Signal negativ interpretiert und löst Panik und Wut aus.

Axiom 5: Kommunikation ist entweder symmetrisch oder komplementär.

  • Rolle: Die Geschichte beginnt mit einer komplementären Interaktion (Erzähler als Bittsteller, Nachbarin als Entgegenkommende). Die Reaktion des Erzählers in der Nacht wandelt das Verhältnis intern in eine symmetrische Eskalation um.
  • Beispiel: Durch die (nur vorgestellte) Verletzung der Nachbarin reagiert der Erzähler mit innerer Wut und Beleidigungen („dumme Kuh“). Er spiegelt die angenommene Aggression der Nachbarin mit seiner eigenen psychischen Aggression, was ihn dazu bringt, zwei Stunden wach zu bleiben. Er versucht, seine eigene Macht über die Situation durch extreme emotionale Reaktion wiederherzustellen.

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