Worum es hier geht:
Wittgenstein über Sprache, Bedeutung und Alltagskontexte – im Vergleich zu Husserl
Worum es hier geht – vom Wörterbuch zur Lebensform
Wer sich einmal ernsthaft mit Husserls Begriff der Lebenswelt beschäftigt hat, merkt schnell: Begriffe sind keine festen Behälter mit klar abgemessener Bedeutung, sondern eher wie Beutel mit offenem Rand – jeder trägt ein bisschen anderes darin herum.
Warum das so ist? Weil wir Begriffe nicht nur verstehen, sondern auch füllen – mit unseren Erfahrungen, Vorlieben, Bildern, Sorgen und Hoffnungen.
Näheres zu Husserls „Lebenswelt“-Hinweis:
https://schnell-durchblicken.de/der-philosoph-husserl-und-seine-lebenswelt-theorie-die-jede-begriffs-definition-subjektiv-erweitert
1. Begriffe leben von Konnotationen
Ein einfaches Beispiel:
Osterferien.
– Für Schüler:innen: endlich frei!
– Für Lehrer:innen: endlich Zeit für… Korrekturen, Unterrichtsvorbereitung, Elterngespräche, Organisation, vielleicht auch ein bisschen Pause.
Der Begriff ist derselbe – doch seine emotionale Färbung ist grundverschieden.
Oder das Thema Liebe:
– Für die einen ist sie gleichbedeutend mit Exklusivität, romantischer Zweierbeziehung, vielleicht sogar Eifersucht.
– Für andere: intensive Nähe, aber offen für andere Formen der Bindung, mit Vertrauen, aber ohne Besitzdenken.
Husserl spricht hier von der „Lebenswelt“ – dem Raum, in dem solche Bedeutungsnuancen entstehen. Bedeutungen sind immer subjektiv mitgeprägt, auch wenn wir gemeinsam über sie sprechen.
2. Und dann kam Wittgenstein
Die Idee für den Vergleich verdanken wir einem Kapitel aus dem Buch
Wolfram Eilenberger: Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung 1948–1984, E-Book-Ausgabe, Stuttgart: Klett-Cotta 2024, S. 90-102
ISBN E-Book: 978-3-608-12373-9
Wer Wittgensteins frühes Werk kennt, etwa den Tractatus logico-philosophicus, glaubt zunächst, er habe das große Rätsel Sprache mathematisch zu fassen versucht:
– logisch präzise
– sachlich kühl
– fast wie ein Sprach-Architekt, der den Bauplan der Welt entschlüsseln wollte.
Aber Wittgenstein änderte seine Sichtweise. Radikal.
In seinen späteren Schriften – vor allem den Philosophischen Untersuchungen – kehrte er sich ab von der Idee einer logischen Tiefenstruktur und wendete sich dem oberflächlichen, aber lebendigen Gebrauch der Sprache zu.
Sein neues Motto:
„Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“
Statt Definitionen suchte er nun nach Verwendungszusammenhängen – sogenannten Sprachspielen, die eingebettet sind in das, was er Lebensformen nennt: unsere Alltagsgewohnheiten, unsere Regeln, unsere sozialen Rituale.
Ein Kind lernt nicht durch Definitionen, was „Spiel“ bedeutet, sondern durch Beispiele. Es spielt Schach, „Ich sehe was, was du nicht siehst“, oder beobachtet, wie der Wind mit der Fahne spielt.
Die Gemeinsamkeit? Keine messbare Essenz – sondern „Familienähnlichkeiten“.
Was das bedeutet?
Denk nicht – schau.
3. Und was bedeutet das nun philosophisch?
Wittgenstein macht deutlich:
Wenn Philosophen Begriffe wie „Wissen“, „Wahrheit“, „Sein“ oder „Erfahrung“ isoliert betrachten, losgelöst von ihrem Sprachgebrauch, dann erzeugen sie Scheinprobleme.
Sie konstruieren Bedeutungsrätsel, wo in Wahrheit nur ein fehlender Blick auf die Alltagspraxis steht.
Er nennt diese Form der Philosophie therapeutisch:
Sie heilt unsere Verwirrung, indem sie unsere Begriffe zurück in den Alltag holt – dorthin, wo sie funktionieren.
4. Vergleich: Husserl ↔ Wittgenstein
Aspekt | Husserl | Wittgenstein |
---|---|---|
Ausgangspunkt | Subjektive Erfahrung (Lebenswelt) als Fundament der Erkenntnis | Sprachlicher Gebrauch im Alltag als Ort der Bedeutung |
Ziel | Begriffe auf eine tiefe, vorwissenschaftliche Struktur zurückführen | Begriffe durch ihren Gebrauch in Sprachspielen verstehen |
Methode | Epoché, phänomenologische Reduktion, Wesensschau | Beschreibung, Konkretheit, Beispiel statt Definition |
Problem | Versucht, das Unsagbare doch noch zu sagen (Begriff der Lebenswelt) | Erkennt die Grenze des Sagbaren an („Wovon man nicht sprechen kann…“) |
Philosophieverständnis | Erkenntnistheoretisch-systematisch | Sprachkritisch-therapeutisch |
5. Was bleibt – für uns?
Wenn man Husserl gelesen hat, ahnt man, dass jeder Begriff mehr trägt, als er zeigt.
Wenn man Wittgenstein ernst nimmt, merkt man, dass man das meiste davon nicht definieren, aber zeigen kann – durch Gebrauch, Beispiel, Kontext.
Vielleicht ist es so:
– Husserl will der Sprache einen Grund geben – und versucht, den Begriff am Ende doch irgendwie klar zu fassen.
– Wittgenstein zeigt, dass Sprache sich selbst trägt, solange wir sie miteinander gebrauchen.
Das passt zu dem wunderbaren Spruch von Prof. Schützeichel in einer Vorlesung: „Sprechen ist immer neu“. Das heißt: Die Sprache existiert nicht in Wörterbuch und Grammatik, sondern im praktischen Gebrauch einer Sprechergemeinschaft und in konkreten Situationen.
Zum Weiterdenken
- Diese Überlegungen hier sind vor allem ein Problem für eine Philosophie, die glaubt, mit Begriffen feste Bausteine für das Verständnis der Welt zu haben.
- Besonders bemüht haben sich um quasi-mathematische Klarheit von Begriffen die Philosophen des sog. „Wiener Kreises“.
Auf der folgenden Seite gehen wir kurz auf ihren Traum von den sog. „Basissätzen“ ein:
https://schnell-durchblicken.de/was-hat-es-mit-den-basissaetzen-des-wiener-philosophenkreises-auf-sich- Husserl und Wittgenstein zeigen, dass die so entstandenen Gedanken-Bauwerke nicht so fest und sicher stehen, wie die Philosophen es sich gedacht haben.
- Wir haben versucht, die Probleme am Beispiel von Immanuel Kants „Kategorischem Imperativ“ zu zeigen.
https://textaussage.de/anders-tivag-parabel-zum-kategorischen-imperativ
und
https://schnell-durchblicken.de/geschichten-vom-herrn-f-folge-1-der-kategorische-imperativ
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Themen der Philosophie: Infos, Tipps und Materialien
https://schnell-durchblicken.de/themen-der-philosophie-infos-tipps-und-materialien
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos