Matthias Claudius, „Abendlied“ – ein bisschen Romantik und ganz viel Barock (Mat6193)

Worum es hier geht:

    • Wir kannten dieses Gedicht bisher nur als eine Art Einschlaflied, das wir aus unseren Interpretationsbemühungen entsprechend rausgehalten haben.
    • Jetzt wurden wir mehr oder weniger gezwungen, uns mit ihm zu beschäftigen – und siehe da:
    • Man konnte an diesem Gedicht viel sehen und lernen:
      • Zunächst das Übliche: Analyse und Interpretation
        Die Gesamtübersicht ist hier zu finden:
        https://schnell-durchblicken.de/matthias-claudius-abendlied
      • Dort zeigen wir auch, wie man an diesem Gedicht schön die sogenannte „Inhaltsbeschreibung“ üben kann.
        Die unterscheidet sich ja stark von der Inhaltsangabe etwa einer Kurzgeschichte oder sogar einer Ballade.
      • Dann das Erkennen von Signalen im Text, also den Zeichen, die den Lesern offen oder versteckt gegeben werden.
        Wie man aus den Signalen einer Strophe die Aussagen herausarbeitet, zeigen wir hier:
        Außerdem geht es um eine „Falle“, in die man läuft, wenn man Signale nicht am gesamten Gedicht überprüft.
        https://schnell-durchblicken.de/gedichtinterpretation-von-der-inhaltsbeschreibung-zu-den-aussagen-des-gedichtes-signalbuendelung-und-ihre-fallen
      • Dann geht es um die Herausarbeitung der Gesamtaussagen des Gedichtes aus diesen Signalen.
        Das ergänzen wir noch.
      • Und schließlich auch noch das Problem verschiedener Versionen, was wir aber ganz an den Schluss gestellt haben. Denn in der Schule spielen sie in der Regel keine Rolle.
        An der Stelle, wo die Unterschiede wichtig werden, merken wir das natürlich an.

Zur äußeren Form des Gedichtes

  • Wir sind es leid …
  • Kaum bekommt man ein Gedicht in die Hand …
    • lautet die Aufgabe meist: Sprachliche Mittel bestimmen
      Dabei weiß ich noch gar nicht, welchem Zweck diese Mittel dienen.
    • Also: Erst mal Inhalt und Aussage klären, dann kann man sich mit der Frage beschäftigen, wie die sprachlich oder rhetorisch unterstützt wird.
    • Kommt hier also erst weiter unten 😉
  • Noch schlimmer ist die Erwartung, dass man beim Gedicht erst mal Strophenform, Reimschema und Rhythmus prüft – dazu noch die Kadenzen (Versschlüsse).
  • Wir haben uns mit Hunderten Gedichten beschäftigt, auch in der Schule und in  Prüfungen.
  • Unsere Schätzung: Etwa in 1 % der Fälle hatten Reim und Rhythmus eine größere Funktion als die Prüfer zufriedenzustellen und die Schülis zu quälen.
  • Wenn diese äußere Form überhaupt etwas zur Klärung der Bedeutung des Gedichtes beiträgt, dann sollte sie bei den sprachlichen, rhetorischen und sonstigen literarischen Mitteln behandelt werden
  • Und das werden wir hier auch machen – also bitte etwas Geduld!!!

Zum Inhalt und zum Epochenbezug

  • Im Folgenden beschreiben wir den Inhalt der Strophen
  • und gehen dann auf die Frage der Epochen ein.
  • Die für die Entstehungszeit von ca. 1778 doch sehr frühe romantische Ader am Anfang weicht bald der strengen Barockauffassung :
    • Die Gegenwart hier auf der Erde ist nicht viel wert.
    • Stattdessen sollte man sich auf den Himmel freuen.
  • Aber schauen wir uns das mal genauer an.
  • Zunächst zum Problem der Inhaltsbeschreibung bei Gedichten kann es nicht um eine Inhaltsangabe wie bei einer Kurzgeschichte gehen.
  • Schließlich gibt es in der Regel keine Handlung.
  • Also versuchen wir mal einen anderen Weg
  • und präsentieren erst mal unsere Lösung
  • und dann die dahinter sich verbergende Erkenntnis.

Matthias Claudius

Abendlied

  1. Der Mond ist aufgegangen
  2. Die goldnen Sternlein prangen
  3. Am Himmel hell und klar;
  4. Der Wald steht schwarz und schweiget,
  5. Und aus den Wiesen steiget
  6. Der weiße Nebel wunderbar.
  • In der ersten Strophe geht es um das Naturphänomen des aufgehenden Mondes und die Begleitphänomene, wie sie das lyrische Ich in den Blick nimmt und auch gefühlsmäßig bewertet.
  • Konkret bedeutet das, dass neben dem Mond auf drei Naturelemente näher eingegangen wird.
    • Bei den Sternen wird die Schönheit hervorgehoben, die vor einem klaren Himmel natürlich besonders deutlich wird.
    • Im Wald wird im Kontrast dazu das Dunkle und das Schweigende hervorgehoben, wohl um deutlich zu machen, dass die Nacht im irdischen Bereich eine Zeit der Ruhe ist.
      (Hypothese)
    • Das dritte Element, auf das näher eingegangen wird, ist der Nebel, der aus den Wiesen aufsteigt und der damit wegen seiner Helligkeit eine Verbindung herstellt zwischen dem irdischen und dem himmlischen Bereich – und zwar im Sinne einer Aufwärtsbewegung.
  • Wenn man sich jetzt unsere Lösung anschaut, so ist es tatsächlich eine Beschreibung. Die enthält allerdings durchaus analysierende Elemente.
  • Wir haben die in der Beschreibung markiert, damit man sieht, wie hier Inhalt mit näheren Erläuterungen verbunden wird.
Von romantischen Ansätzen zur Glaubensstrenge der Barockzeit

Matthias Claudius

Abendlied

  1. Der Mond ist aufgegangen                          (Strophe 1)
  2. Die goldnen Sternlein prangen
  3. Am Himmel hell und klar;
  4. Der Wald steht schwarz und schweiget,
  5. Und aus den Wiesen steiget
  6. Der weiße Nebel wunderbar.
  • Inhaltliche beschrieben haben wir die Strophe ja schon.
  • Hier soll nur noch darauf hingewiesen werden, dass das Gedicht auch von Eichendorff stammen könnte:
  • Die passenden Elemente sind:
    Mond, Sternlein, Wald, Nebel, wunderbar
  1. Wie ist die Welt so stille,                                (Strophe 2)
  2. Und in der Dämmrung Hülle
  3. So traulich und so hold!
  4. Als eine stille Kammer,
  5. Wo ihr des Tages Jammer
  6. Verschlafen und vergessen sollt.
  • Auch die 2. Strophe schlägt noch einen romantischen Ton an und zeigt auch eine entsprechende Haltung.
  • Die Nacht wird zu einer schönen Ruhezeit, die es ermöglicht, die Leiden des Pflichtlebens am Tag zu vergessen.
  • Anmerkung zu Zeile: 10:
    • Die stille Welt erscheint in einer Art Schutzhülle der Dämmerung – übrigens ein ganz wichtiges Phänomen in der Romantik, weil es eine unklare Übergangssituation schafft – und die Romantiker waren genauso für so etwas statt für klare Linien wie in der Mathematik.
    • Dort ist es „traulich“ wie bei sich zu Hause – und auch „hold“, also schön.
    • „Stille Kammer“ ist hier der private Rückzugsraum – entsprechend dem alten englischen Freiheitsgrundsatz „My home is my castle“ – übrigens in vielerlei Hinsicht vor auch staatlichen Übergriffen im Grundgesetz geschützt.
    • Und in diesem privaten Schutzraum hat man dann auch die Chance zu „verschlafen“, also sich zu erholen, und „zu vergessen“. Das ist ja letztlich die beste Möglichkeit der Bewältigung unangenehmer Erfahrungen.
  1. Seht ihr den Mond dort stehen? –                            (Strophe 3)
  2. Er ist nur halb zu sehen,
  3. Und ist doch rund und schön!
  4. So sind wohl manche Sachen,
  5. Die wir getrost belachen,
  6. Weil unsre Augen sie nicht sehn.
  • Hier wird es jetzt parabelartig – es geht um eine Lehre.
  • Sie wird der Kombination aus scheinbarer Halbheit (leicht verdeckt durch Wolken) und dem Wissen, wie der Mond insgesamt aussieht, gezogen:
  • Noch könnte man meinen, dass der Hinweis auf die Grenzen der Realität (das, was man sieht), nicht die ganze Wirklichkeit ist. Das wäre ganz im Sinne der Romantik.
  • Aber dann geht das Gedicht in eine andere Richtung.
  1. Wir stolze Menschenkinder                  (Strophe 4)
  2. Sind eitel arme Sünder,
  3. Und wissen gar nicht viel;
  4. Wir spinnen Luftgespinste,
  5. Und suchen viele Künste,
  6. Und kommen weiter von dem Ziel.
  • Ab der 4. Strophe fühlt man sich in die Barockzeit versetzt.
  • Die Menschen sind stolz, aber nur Sünder, die wenig wissen und nur „Luftgespinste“, also etwas nicht Reales, nicht Haltbares, produzieren.
  • Was man als Fortschritt ansieht, entfernt einen vom Wesentlichen, von Gott.
  • Darum am Ende das Gebet, von Gott das Wahre, das Heil gezeigt zu bekommen.
  1. Gott, laß uns dein Heil schauen,                (Strophe 5)
  2. Auf nichts Vergänglichs trauen,
  3. Nicht Eitelkeit uns freun!
  4. Laß uns einfältig werden,
  5. Und vor dir hier auf Erden
  6. Wie Kinder fromm und fröhlich sein!
  • Bitte an Gott, dass er das Wesentliche in den Blick rückt.
  • Weg von der Vergänglichkeit zur Ewigkeit.
  • Seltsam anmutende Bitte um „Einfalt“, das verstehen wir heute als Dummheit.
  • Hier ist damit die Einfachheit gemeint, wie sie Kinder haben. Da gibt es ja auch den Spruch: „Kindermund tut Wahrheit kund“. Und im Neuen Testament gibt es viele Hinweise auf etwas, „was höher ist als alle Vernunft“.
  • Interessant ist die Verbindung von „fromm“ und „fröhlich“. Es lohnt sich vielleicht, darüber nachzudenken – wenn man „fromm“ richtig versteht.
  1. Wollst endlich sonder Grämen              (Strophe 6)
  2. Aus dieser Welt uns nehmen
  3. Durch einen sanften Tod!
  4. Und, wenn du uns genommen,
  5. Laß uns in Himmel kommen,
  6. Du lieber, treuer frommer Gott!
  • Schließlich die sehr verständliche Hoffnung auf einen „sanften Tod“.
  • Entscheidend: Man geht nicht, sondern wird „genommen“ im Sinne von „aufgenommen“ in die wirklich wichtige Welt des Himmels.
  • Gott wird in dieser Version etwas verniedlicht, während in der Zeno-Version von Gott als „Herr“ die Rede ist, dem man dann auch eher mit Ehrfurcht begegnen sollte – als mit Schulterklopfen.
    Aber diese Unterschiede sollen Fachleute prüfen – in der Schule reicht es, darüber nachgedacht zu haben.
  1. So legt euch denn, ihr Brüder,                    (Strophe 7)
  2. In Gottes Namen nieder;
  3. Kalt ist der Abendhauch.
  4. Verschon uns, Gott! mit Strafen,
  5. Und laß uns ruhig schlafen!
  6. Und unsern kranken Nachbar auch!
  • Am Ende dann die Anrede an die Glaubensgemeinschaft, damals stark auf die männliche Seite der Gesellschaft fokussiert.
  • Interessant, wie hier eine Art Übergang gestaltet wird von dem frommen Kurzbesuch in Gottes Welt hin zur kalten Wirklichkeit.
  • Dann wieder der Aspekt der Ernsthaftigkeit, der Herr-Gott hat auch „Strafen“ im Angebot,
  • verbunden mit der Bitte um einen ruhigen Schlaf und dann die plötzliche Wendung ins Menschlich-Soziale, wenn auch an den „kranken Nachbar“ gedacht wird.

Von den Signalen zu Aussagen kommen:

Hierzu gibt es sogar ein Video:

Videolink

Hier ist die Dokumentation zu finden:
Mat6247 vf Wie Gedichte ihre Aussage verraten Beispiel Claudius Abendlied

Wir setzen das hier noch fort – bitte etwas Geduld: Die beiden Hauptziele, die wir am Anfang genannt haben, sind ja erreicht worden.

Zur Frage der „Botschaft“ des Gedichtes

Zu dieser ungewöhnlichen Frage ist uns auf der folgenden Seite ziemlich viel eingefallen:
https://schnell-durchblicken.de/die-botschaft-eines-gedichtes-formulieren-beispiel-matthias-claudius-abendlied

Zur Bedeutung der Biografie für die Interpretation

Hier haben wir einiges herausgefunden:
https://schnell-durchblicken.de/biografische-interpretation-beispiel-matthias-claudius-abendlied

Vergleichsmöglichkeit

Das Gedicht von Matthias Claudius lässt sich gut vergleichen mit
Eichendorff, Der Einsiedler
https://schnell-durchblicken.de/eichendorff-der-einsiedler-mit-anregungen

Weitere Infos, Tipps und Materialien