Worum es hier geht:
Der Roman „Heimsuchung“ von Jenny Erpenbeck gilt als Zeitroman, der viele Epochen deutscher Geschichte umfasst.
Wir zeigen hier, wie die wichtigsten Figuren des Romans mit diesen Epochen verknüpft sind.
Als Textbasis verwenden wir die Kindle-EBook-Ausgabe des Romans.
btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München.
Copyright © 2007 by Eichborn AG, Frankfurt am Main
ISBN 978-3-641-13477-8
Zum Verhältnis von Figuren und geschichtlichem Hintergrund
- Jenny Erpenbecks Roman „Heimsuchung“ erzählt die Schicksale verschiedener Bewohner eines Grundstücks am Scharmützelsee in Brandenburg.
- Dabei geht es um einen Zeitraum von etwa 100 Jahren.
- Das Besondere ist, dass die persönlichen Geschichten der Figuren mit zentralen Abschnitten und politischen Umbrüchen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden sind.
- Die Figuren können den jeweiligen Epochen wie folgt zugeordnet werden:
Kurze Vorbemerkung zum „Prolog“
Dort wird die Vorgeschichte bzw. die Erdgeschichte beschrieben (Eiszeit, 24.000 v. Chr. – 13.000 v. Chr.). Sie betrifft nicht direkt menschliche Figuren. Vielmehr dienst erklärt sie die langen Zeiträume, die schließlich die Landschaft geschaffen haben, in denen sich die das Leben der Menschen des Romans abspielt.
Interessant ist allerdings der Schluss des Prologs, wo es heißt, weil es dort eine direkte Verbindung zu den Menschen gibt mit einem Schlusshinweis auf etwas, was zum Titel des Romans passt: „Verwüstung“.
„Eine Zeitlang würde der See jetzt inmitten der märkischen Hügel seinen Spiegel dem Himmel hinhalten, würde glatt daliegen zwischen Eichen, Erlen und Kiefern, die jetzt wieder wuchsen, viel später würde er, wenn es irgendwann Menschen gab, von diesen Menschen sogar einen Namen bekommen: Märkisches Meer, aber eines Tages würde er auch wieder vergehen, denn, wie jeder See, war auch dieser nur etwas Zeitweiliges, wie jede Hohlform war auch diese Rinne nur dazu da, irgendwann wieder ganz und gar zugeschüttet zu werden. Auch in der Sahara gab es einmal Wasser. Erst in der Neuzeit trat dort das ein, was man in der Wissenschaft als Desertifikation bezeichnet, zu deutsch Verwüstung.“
Das wiederum passt zum Schluss des Romans, wo es im Zusammenhang mit dem Abbruch des Hauses am See heißt:
„In den Pausen sitzen die Männer im Gras, um zu essen oder zu trinken, manche von ihnen lehnen an dem oder jenem Baum und rauchen und blicken dabei auf den See. Als sie mit dem Abbruch des Hauses fertig sind, und nur noch eine Grube an den Platz erinnert, auf dem vorher das Haus stand, sieht das Grundstück auf einmal viel kleiner aus. Bevor auf demselben Platz ein anderes Haus gebaut werden wird, gleicht die Landschaft für einen kurzen Moment wieder sich selbst.“
Damit wird deutlich, wie kurz die Zeit des Romans letztlich ist vor dem Hintergrund der erdgeschichtlichen Entwicklung und sehr der Mensch wohl auch als Störenfried gesehen wird – bis die Natur wieder zu sich selbst kommt.
Damit hat man ein erstes Ergebnis: Alles, was im Roman erzählt wird, ist für die Figuren in ihm von Bedeutung – und meistens negativ („Heimsuchung“). Das gilt natürlich auch für alle, die den Roman lesen. Aber die gesamte menschliche Existenz kann und muss vielleicht auch in größeren Dimensionen gesehen werden, was ihr in größeren Kontexten die Bedeutung nimmt..
Der Gärtner – epochenübergreifend, man könnte auch sagen „zeitlos“
- Wenn man sich die großen Zeiträume klargemacht hat, die den Roman umspannen, gibt es eine interessante Parallele zur Zeitlosigkeit des Gärtners. Der taucht ja praktisch in allen Epochen auf.
- Und er hat auch etwas mit der Natur zu tun, ist in gewisser Weise ihr Sachwalter, auch wenn er sich kurzzeitig den Wünschen der Menschen in Richtung Umgestaltung der Landschaft fügen muss.
- Dazu kommt, dass der Gärtner ja präsentiert wird wie eine mythische Figur, von der man nicht weiß, wann und woher er gekommen ist, und die auch am Ende einfach verschwindet.
- Man könnte angesichts der Zwischenkapitel sagen, dass die Natur im Gärtner die ganze Zeit präsent ist.
Der Wurrach, ein Großbauer, und seine vier Töchter – Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
- Im Kapitel „Der Großbauer Wurrach und seine vier Töchter“ geht es um die kulturellen und sozialen Verhältnisse wohl vor dem Ersten Weltkrieg.
- Man hat den Eindruck, dass hier Schicksale aus einem Volkskundemuseum präsentiert werden, die für lange Zeiträume stehen.
- Zwei konkrete Daten werden genannt:
- Zunächst wird auf die Familiengeschichte des Großbauern verwiesen, die das Schulzenamt schon seit dem Jahr 1650 bekleidet haben (EB16).
- Das zweite Datum wird auf S. 18 genannt, wo es um die Flucht des Verlobten von Grete nach Melbourne in Australien geht, wo er „am 16. November 1892“ (EB18) ankommt.
Hier die Textstellen zum Hintergrund:- „Grete heiratet nicht, weil der älteste Sohn des Bauern Sandke, mit dem sie sich verlobt hat, der einzige von den sechs Sandke-Söhnen, der für die Landwirtschaft ausgebildet ist, weil er den Sandkeschen Hof erben soll, unmittelbar vor der Hochzeit, zu seiner eigenen und auch zur Überraschung seines Vaters, vom Grundherren nicht zum Erben bestimmt wird.
- Die Hochzeit wird daraufhin ausgesetzt, und Gretes Verlobter [… ] fährt […]nach Melbourne/ Australien.“
- Von Melbourne aus schreibt er dies in einem Brief an seine Verlobte, danach hört Grete nichts mehr von ihm, und die an den Wurrachschen Besitz angrenzenden Sandkeschen Felder sind für die Familie des Schulzen auf immer verloren.“
- Der Großbauer teilt das Waldgrundstück seiner entmündigten Tochter Klara in drei Parzellen auf und verkauft sie. Sie symbolisieren die feudalen Machtstrukturen und das Besitzdenken der Vorkriegszeit.
- Interessant ist noch eine Textstelle, in der offensichtlich immer noch dieser Wurrach „trotz seines hohen Alters“ „Ortsbauernführer“ (EB25) geworden ist und damit ein christliches Begräbnis gegen den Pfarrer für seine Tochter Klara durchsetzen kann. Als Selbstmörderin hätte sie nach damaliger Vorstellung keinen Anspruch darauf gehabt. Die Bezeichnung des Amtes deutet an, dass dieser Mann noch in die NS-Zeit hineinragt. Damit könnte der Roman die Übergänge zwischen Kaiserzeit, Weimarer Republik und NS-Zeit deutlich machen.
— - Insgesamt steht diese Zeit für Patriarchalismus, d.h. die Herrschaft von Männern, und die geringen Möglichkeiten, die Frauen damals hatten. Bezeichnend ist, dass Emma als Tochter des Schulzen (Dorfvorstehers) real das Amt des Vaters ausübt.
- Es wird ausdrücklich erwähnt, dass Emma, die drittälteste Tochter des Schulzen, sicher zum Schulzen getaugt hätte, wenn sie als Mann auf die Welt gekommen wäre.
- Sie geht ihrem Vater bei allem zur Hand, entscheidet in seiner Abwesenheit über die Kontributionen der Dörfler, stellt Knechte und Mägde ein und überwacht Holzungen, Felder und Vieh.
Der Architekt – Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus
- Er kauft in den frühen 1930er Jahren ein Drittel von Klaras Wald und beginnt dort mit dem Bau des Ferienhauses am See.
Klara ist von ihrem Vater, dem Wurrach entmündigt worden.
Als sie später stirbt, ist ihr Vater schon „Ortsbauernführer„, also in der NS-Zeit.
Von daher steht der Architekt wohl wirklich für die Zeit des Übergangs von der Weimarer Republik zur NS-Zeit.
— - Interessant ist das Verhältnis des Architekten zum Judentum. Auf der Seite EB43 wird deutlich, dass er beim Antrag auf Mitgliedschaft in der NS-Reichskulturkammer (mit Vorteilen für seine Arbeit) den Rat eines Freundes braucht, so dass er seine jüdischen Urgroßeltern außen vor lassen kann. Später erfährt man, dass dieser Architekt sogar im Umfeld des NS-Ministers Albert Speer an einem Bauprojekt mitgearbeitet hat (EB180).
— - Der Architekt kauft dann später Grundstück und Badehaus von einer jüdischen Familie, die zur Ausreise gezwungen ist und beruhigt sich mit dem Gedanken:
„Immerhin die Hälfte des Verkehrswerts hatte er den Juden gezahlt. Und das war schon nicht wenig gewesen. Auf die Schnelle hätte sich gar kein anderer Käufer gefunden.“ (EB43).
Hier sieht man sehr deutlich die komplexen Beziehungen, die der antisemitische Rassismus der NS-Zeit zum Problem macht. - Interessant ist auch ein Zitat der Frau des Architekten. Nach dem Ende der NS-Zeit erklärt sie einem Gast, Direktor eines Reifenkombinats, (also Ostzone/DDR:
„Ich fand das von Hitler unmöglich, von uns Frauen zu verlangen, daß wir dem Staat Kinder gebären – wir sind doch keine Maschinen.“ (EB74) und ihr Mann interpretiert das so: „Meine Frau war auf ihre Art praktisch im Widerstand“ (EB74).
Auch das passt zu den vielen chamäleonfarbigen Anpassungen des Architekten.
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Der Tuchfabrikant und seine Familie, die Frau des Architekten und die Schriftstellerin – Nationalsozialismus und Krieg
- Der Tuchfabrikant aus Guben kauft das zweite Drittel von Klaras Wald am Seeufer. Er setzt dabei seinen Sohn Ludwig in den Kaufvertrag ein (EB24), um es als Erbteil anzulegen. Später baut er ein Badehaus am See..
- Ludwig flieht 1936 mit seiner Frau nach Südafrika (EB59). Seine Eltern verkaufen das Grundstück 1939 unter Wert (EB60), um ihre Flucht zu finanzieren, was jedoch scheitert. Sie werden 1940 unter grausamen Umständen in einem Gaswagen ermordet (EB60). Sein Schwiegersohn Ernst stirbt bei Zwangsarbeit (EB61).
- Das Mädchen (Doris): die Tochter von Ernst und Enkelin des Tuchfabrikanten wird 1941 mit ihrer Mutter ins Warschauer Ghetto deportiert. (EB85) 1942/43 versteckt sie sich dort in einer „schwarzen Kammer“ (EB79), wird aber entdeckt und im Konzentrationslager Treblinka erschossen. (EB91) Jenny Erpenbeck hat den Roman auch dieser „Doris Kaplan“ gewidmet,
— - Die Frau des Architekten:
- Zusammen mit dem Gärtner versenkt sie Wertgegenstände im See, um sie vor den heranrückenden Russen in Sicherheit zu bringen (EB34)
- Sie versteckt sich am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 vor der Roten Armee im begehbaren Kleiderschrank ihres Hauses.
- Der Rotarmist: Als junger russischer Major quartiert er sich 1945 im Haus des Architekten ein und entdeckt dort die versteckte Frau des Architekten – beide haben anscheinend einvernehmlichen Sex miteinander. (EB99ff)
Dafür spricht das folgende Zitat am Ende der Begegnung:
„Es fehlt nicht viel, und sie würde ihn mit einem kleinen Klaps auf den Po zum Schrank hinausschie-ben, wie eine Mutter, die ihr Söhnchen auf den Weg zur Schule verabschiedet.“ (EB101)
— - In die Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges fällt auch das Leben der Schriftstellerin:
- Sie musste als Kommunisten fliehen,
- wäre fast ein Opfer der willkürlichen Verfolgungen der Stalinzeit in der Sowjetunion geworden.
- Weiteres zu ihr findet sich im DDR-Teil.
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- Die Besucherin: Sie stammt aus Masuren und wurde zum Kriegsende vertrieben. Sie verbringt in den 1970er Jahren Ferientage am See bei der Familie der Schriftstellerin.
Die Besucherin reflektiert über die universelle Erfahrung von Vertreibung und den Verlust von Besitz während des Krieges: „Im Frieden war es die Armut, und im Krieg war es die Front, die die Menschen vor sich herschob wie eine lange Reihe von Dominosteinen, einer schlief in des anderen Betten, benutzte dessen Kochzeug, aß die Vorräte auf, die der andere hatte stehen lassen müssen.“ (EB130) - Sie musste nach ihrer Flucht „kurze Zeit als Magd bei den Polen, die das Haus inzwischen schon in Besitz genommen hatten, auf ihrem eigenen Hof“ dienen . Dies unterstreicht den dramatischen Verlust ihrer Heimat und ihres Status im Zuge der Nachkriegsereignisse und Grenzverschiebungen.
Architekt, Schriftstellerin, Besucherin, Unterpächter, Kinderfreund: Zeit der DDR bis 1989
- Der Architekt: Ihm droht 1951 die Verhaftung in der DDR wegen illegalen Materialeinkaufs, woraufhin er nach West-Berlin flieht.
Deutlich wird hier ein Kommunismus, dessen Funktionäre nicht wollen, dass eigene Defizite mit Käufen im Westen behoben werden.
Das ist ein extrem gegensätzliches Denken zum Kapitalismus, in dem so etwas ein Beispiel für ideenreiches Unternehmertum ist. - Interessant das folgende Zitat:
„Drei Dimensionen waren bisher sein Beruf, Höhe, Breite und Tiefe, hoch, breit und tief wollte er bauen, aber die vierte hat ihn jetzt eingeholt, die Zeit, und die jagt ihn jetzt aus seinem Gehäuse.“ (EB37)
Hier wird sehr deutlich, wie sehr der Mensch abhängig ist von der Zeit bzw. der Situation, in der er gerade lebt.
— - Die Schriftstellerin:
Nach der Flucht des Architekten fällt das Haus an den Staat. Anfang der 1950er Jahre pachtet ein kommunistisches Schriftstellerehepaar, das aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrt ist, das Haus. Die Schriftstellerin lebt bis in die 1970er Jahre dort und arbeitet an ihren Erinnerungen.- Sie muss auch erleben, dass es im Kommunismus auch auf Beziehungen ankommt. Der Arzt eines hohen Beamten hat mehr Rechte als sie. (EB114)
- Sie versucht, durch ihr Schreiben die deutschen Barbaren wieder in Menschen zurückzuverwandeln.
„mit dieser Schreibmaschine hatte sie all die Worte getippt, die die deutschen Barbaren zurückverwandeln sollten in Menschen und die Heimat in Heimat.“ (EB114) - Ganz grundsätzlich sieht sie aber jetzt die gesamte Menschheit als Heimat. (EB116)
„Aber ihr, der kein Land mehr, sondern die Menschheit die Heimat sein sollte, blieb der Zweifel für immer als Heimweh.“
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- Die Unterpächter: Das Ehepaar pachtet die Werkstatt auf dem Grundstück nach 1989, doch ihre Lebensgeschichte ist stark von den Erlebnissen im DDR-Regime geprägt, wie einem gescheiterten Fluchtversuch (EB151) und dem Gefängnis des Mannes.
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Unterpächter, Kinderfreund, unberechtigte Eigenbesitzerin: Wendezeit und Nachwendezeit (Nach 1989):
- Die Unterpächter: Sie nutzen die gepachtete Werkstatt nach der Wende als Wochenendhaus und hoffen auf einen schönen Lebensabend.
- Die unberechtigte Eigenbesitzerin: Die Enkelin der Schriftstellerin muss das Haus und Grundstück nach der Wende den Erben der Architektenfrau zurückgeben. Ihre Geschichte spielt um die Jahrtausendwende.
Bezeichnend ist die folgende Textstelle:
„Sie hatte ihrem Mann nicht erklären können, daß von dem Moment an, als sich abzeichnete, daß sie in diesem Haus nicht alt werden würde, die vergangene Zeit in ihrem Rücken zu wuchern begann, daß da ihre sehr schöne Kindheit ihr, die längst erwachsen war, mit so großer Verspätung noch über den Kopf wuchs und sich als sehr schönes Gefängnis erwies, das sie für immer einschließen würde.“ (EB183)
Hier wird deutlich, wie ein solches Haus wie das am See zu einer Heimat werden kann, die man wie ein Gefängnis nicht mehr los wird.
— - Der Kinderfreund: Er ist der Jugendfreund der Enkelin der Schriftstellerin und erlebt seine Kindheit und Jugend am See während der DDR-Zeit, auch wenn seine aktive Rolle später, um die Jahrtausendwende, beschrieben wird.
Interessant ein Zitat zum Umfeld des Mauerfalls. Er denkt an einen Freund, der die neuen Reisemöglichkeiten nutzte und bei einem Tauchgang in der Karibik ums Leben gekommen ist. (EB158)
„Ja. Als wären für ihn durch die Grenzöffnung nur die Möglichkeiten zu sterben größer geworden.““
Fazit: Wohl kein „Jahrhundertroman“ – eher geschichtliches Spuren-Mosaik
Näheres dazu findet sich hier:
Der Roman „Heimsuchung“ – wirklich ein „Jahrhundertroman“? Wohl eher eine Sammlung individueller Spuren in der Geschichte
https://schnell-durchblicken.de/roman-heimsuchung-check-jahrhundertroman-durch-alltagsgeschichte
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Infos, Tipps und Materialien zum Roman „Heimsuchung“ von Jenny Erpenbeck
https://schnell-durchblicken.de/themenseite-heimsuchung
— - Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos
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